Als am 18. Juni durch Litauen eine Transitsperre zwischen Kaliningrad und Kernrussland verhängt wird, kommen aus der betroffenen Region zunächst eher beruhigende Töne. Die dortige Verwaltung versichert, die Enklave werde zur Not über den Seeweg versorgt, die Einwohner sollten von „Hamsterkäufen“ absehen.
Für eine ganz andere „Message“ entscheidet man sich in Moskau. Das Außenministerium spricht von einem „feindlichen Schritt“ und verlangt von Litauen und der EU ein sofortiges Ende der Transitsperre. In Talkshows wird ein militärisch gesicherter Korridor nach Kaliningrad erwogen, falls Vilnius nicht umdenkt. Dmitri Rogosin, Anfang der nuller Jahre Chefunterhändler bei russisch-litauischen Verhandlungen, erinnert
, erinnert daran: Die Verträge von 2002/03 zwischen Russland, Litauen und der EU garantierten einerseits den freien Waren- und Personentransport von und nach Kaliningrad, zum anderen enthielten sie die russische Anerkennung der litauischen Grenzen. Damit zu brechen, sei eine „selbstmörderische Entscheidung“, stelle es doch die Legitimität der geltenden Grenze in Frage.Politiker Litauens wiederholen immer wieder, alles sei mit der EU abgestimmt. Am 23. Juni schiebt Präsident Gitanas Nausėda die Verantwortung ganz auf Brüssel ab und erklärt, das Transitverbot sei keine Sache der bilateralen Beziehungen mit Moskau, sondern Anliegen der EU – Litauen führe entsprechende EU-Beschlüsse nur aus. Im Klartext: kein unüberlegter Alleingang, sondern ein vom „kollektiven Westen“ koordinierter Schritt, dessen Risiken seit Monaten bestens bekannt und kommuniziert waren.Die Schärfe der russischen Reaktion wurde bereits Anfang April offenbar, als im Baltikum eine Kaliningrad-Blockade erstmals öffentlich erwogen wurde. Vizeaußenminister Alexander Gruschko warnte vor einem „Spiel mit dem Feuer“. Er hoffe, „dass der gesunde Menschenverstand in Europa es nicht zulässt, irgendwelche Spielchen rund um Kaliningrad zu treiben“.Trotz des Wissens um eine nach oben offene Eskalationsskala hat sich die EU anders entschieden. Die Vermutung liegt nahe, dass für Brüssel, wohl auch für Washington, die Kaliningrad-Frage ein Vehikel ist, um eine zweite (politische) Front gegen Moskau zu eröffnen. Der Zeitpunkt scheint nicht zufällig gewählt. Zum einen verschlechtert sich die Lage für die ukrainischen Truppen im Donbass rasant, da die Verluste steigen und der Verteidigungsknotenpunkt Sewerodonezk am 25. Juni gefallen ist. Die Vorräte an Munition und Waffen schwinden, der westliche Waffentransfer stockt. Eine zweite (wirtschaftspolitische) Front im Baltikum könnte die Ukraine entlasten.Achillesferse Suwalki-LückePlaceholder image-1Zum anderen warf der NATO-Gipfel von Madrid seine Schatten voraus, der eine stark ausgeweitete Militärpräsenz an der Ostflanke beschließen sollte. Die gespannte Lage um Kaliningrad und Litauen wirkte da wie ein Blankoscheck. Fest steht, trotz aller teils martialischen Rhetorik könnte sich Russland eine zweite militärische Front schlichtweg nicht leisten, da die wichtigsten Kapazitäten im Ukraine-Krieg gebunden sind. Eine Ausweitung des Konfliktes vom Schwarzen Meer bis an die Ostsee wird man mit allen Mitteln vermeiden – trotz harter Drohungen. Vermutlich wird sich Moskau auf ökonomische Strafmaßnahmen beschränken. Ostentative Schritte militärtechnischer Natur sind dennoch möglich, wie die Platzierung von Waffensystemen mit großer Reichweite in Kaliningrad.Die Option, das Risiko zu minimieren, dürfte ebenso für die NATO gelten. Der Allianz kann an einem militärischen Konflikt nicht gelegen sein, da das Baltikum im Ernstfall mit konventionellen Mitteln nicht zu verteidigen ist. Die NATO-Eingreiftruppe ist dort zwar präsent, aber im Vergleich zu einem möglichen russischen Aufmarsch von fast schon symbolischer Natur. Die strategisch wichtige Suwalki-Lücke (siehe Karte), die schmale Landverbindung zwischen dem Baltikum und dem Rest der NATO, wäre für russische Truppen leicht einzunehmen und würde die baltischen Staaten abschneiden.Als mit dem polnischen Manöver „Zima 2020“ die Defensive gegen einen potenziellen Feind aus dem Osten simuliert wurde, war das Ergebnis verheerend. Nach fünf Tagen konnten „gegnerische Truppen“ bereits Warschau und die Weichsel erreichen. Wie sich zeigte, war die Suwalki-Lücke nicht zu verteidigen. „Zima 2020“ führte zu heftigen Turbulenzen bei den polnischen Streitkräften, wurde allerdings auch umgehend als Argument für mehr NATO-Präsenz in der Region gedeutet. Eine Position, die mit der Kaliningrad-Krise an Zugkraft gewinnen dürfte.