Nach einer Phase permanenter ukrainischer Gegenoffensiven zeigt der Umbau der russischen Militärpräsenz in der Ostukraine seit Wochen Wirkung. Verbände werden mit Reservisten aufgefüllt, neue Technik erreicht die Armee, die „Gruppe Wagner“ fungiert als informelle Speerspitze bei Angriffen.
Als Folge ächzt die ukrainische Verteidigungslinie im Donbass. Nahezu auf der gesamten gut 140 Kilometer langen Front von Siwersk im Norden bis südlich von Donezk drängen „Wagner“-Truppen, unterstützt von nachrückenden regulären Verbänden, gegen ukrainische Positionen. Wenig überraschend wurde zuletzt die Lage bei Bachmut zum Indikator für die Schlacht um den Donbass. Lange Zeit galt die Stadt als uneinnehmbar, monate
ar, monatelang mussten russische Einheiten Erfolge schuldig bleiben, dann jedoch kippte die Lage zusehends.Bachmut im HalbkesselDie „Wagners“ durchbrachen zuletzt wichtige Positionen südlich und nördlich von Bachmut und rückten in einem Zangengriff Meter um Meter vor. Mit dem Fall der Stadt Soledar weiter nördlich am zwölften Januar wurden wichtige Trassen nach Siwersk gekappt. Bachmut geriet in einen Halbkessel. Zwei der drei Straßen, über die noch versorgt werden konnte, lagen in Reichweite russischer Artillerie. Dass diese Lebensadern länger gehalten werden könnten, erschien immer unwahrscheinlicher.Dass Bachmut so erbittert verteidigt wurde, erklärte sich vorrangig, aber nicht nur aus dem strategischen Wert der Stadt für die Front im Osten. Bachmut lag wie eine Festung vor dem Knotenpunkt Slawjansk-Kramatorsk, der maßgeblichen ukrainischen Basis im Donbass. Durch Bachmut konnte das Tor zu den beiden Schlüsselorten geschlossen bleiben oder aufgestoßen werden. Zum anderen war das Dreieck Bachmut/Slawjansk/Kramatorsk im Hinblick auf den gesamten Ukraine-Konflikt seit Frühjahr 2014 symbolisch extrem aufgeladen. Die ersten schweren Gefechte zwischen prorussischen Kämpfern und ukrainischen Soldaten gab es auf diesem Terrain. Erst nach schweren Gefechten konnten ukrainische Truppen damals den Gegner bis nach Donezk zurückdrängen, wo die Kampf- schließlich zu einer permanenten Frontlinie wurde und die Grenze zu der „Luhansker“ und der „Donezker Volksrepublik“ bildete. Die Schlacht um Bachmut hat der um Slawjansk nach neun Jahren eine mögliche Neuauflage beschert. Der Donbass-Krieg kehrt in gewisser Weise zu seinen ersten Szenarien und den Orten zurück, an denen er einst begann.Der ukrainischen Regierung ist dieser Hintergrund sehr wohl bewusst, sodass sie einen möglichen „Déjà-vu-Effekt“ um jeden Preis verhindern will. Bachmut zu halten hieß, Slawjansk und Kramatorsk erst gar keine Schlagzeilen zu verschaffen und Parallelen zu 2014 zu vermeiden, so seit Tagen der Leitfaden für alle Kiewer Regierungserklärungen. Zugleich warnten westliche Partner, allen voran die USA und Großbritannien: Das Ringen um Bachmut dürfe auf keinen Fall zu einer Schlacht um die Ukraine werden. Die Stadt sei wichtig, aber man dürfe ihr kein existenzielles Gewicht verleihen – erst hinter Bachmut warte mit Slawjansk-Kramatorsk die eigentliche Festung im Donbass auf den Angreifer. Was mit Bachmut geschehe, bedeute weder ein Ende der Schlacht um den Donbass noch einen Zusammenbruch der Front noch eine Vorentscheidung im Krieg.Bitte um Abzug vs. Bitte um Verbleib in BachmutIm Gegenteil, deshalb seien die Kosten für das Halten von Bachmut für die ukrainische Armee auf Dauer gefährlicher als ein geordneter Rückzug, alles andere laufe auf gefährliche Zermürbung hinaus. Britische und amerikanische Beobachter sprechen vom „Fleischwolf Bachmut“, durch den die besten Einheiten gezogen würden. Ein übermäßiger Fokus auf Bachmut könne zu Lasten künftiger ukrainischer Gegenoffensiven gehen.In Berlin informierte der BND Sicherheitspolitiker des Bundestages in einer geheimen Sitzung darüber, dass die ukrainische Armee in Bachmut täglich dreistellige Verluste verzeichne. Von einem „neuen Verdun“ war die Rede, wo Mensch und Material für einige Meter Front geopfert würden. Zuletzt gingen die Warnungen fast schon ins Makabre, als sich mit Jewgeni Prigoschin ausgerechnet der Chef der vorrückenden „Wagner“-Truppen meldete und Wolodymyr Selenskyj in zynisch-sarkastischem Ton aufforderte, bitte auf keinen Fall aus Bachmut abzuziehen. „Lieber Wolodymyr Oleksandrowytsch! Viele bitten Sie derzeit darum, die Truppen aus Bachmut abzuziehen. Machen Sie das nicht. (…) Kämpfen Sie dort bitte bis zum Ende. Prigoschin“. Die Botschaft des Warlords klang unmissverständlich: Die ukrainische Armee verliere derzeit so gewaltige Ressourcen im Halbkessel von Bachmut, dass die „Wagners“ sich regelrecht wünschten, den Gegner genau dort zu haben. Der ukrainische Exiljournalist Anatolij Scharij bezeichnete die Prigoschin-Erklärung frustriert als „schwärzestes Trolling auf neuem Niveau“.Was auch immer Selenskyj von der Bitte seiner Verbündeten im Westen um Abzug oder der von Prigoschin um Verbleib gehalten hat, es änderte nichts daran, dass die Schlacht um Bachmut für Kiew einen symbolisch-politischen Anstrich bekommen musste. Aus Prestigegründen sollte in der Stadt um jeden Preis ausgehalten werden. Es wurden Verbände in die Schlacht geworfen, die eigentlich für Gegenoffensiven an anderen Frontabschnitten gedacht waren, indem auf neue, vom Westen gelieferte Militärtechnik zurückgegriffen wurde.Sommer auf der KrimWomöglich ist die ukrainische Regierung zur Geisel ihres eigenen kompromisslosen Siegesnarrativs geworden. Spätestens seit dem Vorrücken in den Gebieten um Cherson und Charkiw im Herbst verkündeten ukrainische Politiker und Medien eine „Gegenoffensive, die nicht mehr zu stoppen ist“. „Ein neuer Tag – eine neue befreite Ortschaft!“, so der Tenor. Man überschlug sich mit Prognosen, wonach bis zum Frühling 2023 die Linie vom 24. Februar 2022 erreicht und bis zum Sommer 2023 die Krim zurückerobert werde.Der Fall von Bachmut und ein darauf folgender Vormarsch russischer Streitkräfte ausgerechnet bis nach Slawjansk, wo der bewaffnete Konflikt 2014 richtig begann, würde einen schmerzhaften Bruch für die Siegesgewissheit der Regierung Selenskyj bedeuten, bei dem offen ist, wie er verkraftet wird.