Schmerzhafte und medial wirksame Drohnen-Angriffe tief gegen das russische Hinterland – kurz bevor der Krieg in seinen zwölften Monat geht, setzt die Führung in Kiew auf diese neue Strategie. Sie soll einerseits gegnerischen Luftstreitkräften noch auf ihren Stützpunkten zusetzen, zum anderen der russischen Bevölkerung bedeuten, dass sie Hunderte Kilometer von den Fronten entfernt verwundbar sein könnte. Erste Attacken dieser Art gab es noch vor dem Jahreswechsel, als mehrfach Militärflughäfen betroffen waren. Das hinterließ nicht nur eine schockierende Wirkung, sondern steigerte die Sorge wegen einer daraus erwachsenden nuklearen Eskalation.
Schon im April gab es einen ersten ukrainischen Helikopterangriff auf ein Öldepot bei Belgorod.
Belgorod. Seit dem Herbst ist Luftalarm in russischen Grenzregionen keine Seltenheit mehr. Und doch markierte der Dezember eine Zäsur. Zuvor fanden die „Nadelstiche“ ausschließlich in unmittelbarer Grenznähe statt – gegen die Provinzen Belgorod, Kursk sowie Rostov – und galten zweitrangigen Zielen. Doch dann wurden Objekte getroffen, die für Russland von höchster Priorität sind und zuvor unerreichbar schienen. Genutzt wurden dafür umgebaute sowjetische Drohnen vom Typ Tu-141, die mit einem modernen Navigationssystem aufgerüstet und einem Sprengkopf versehen sind.Die Flugobjekte legten unbemerkt Hunderte Kilometer über Russland zurück. Sie trafen den Militärflugplatz Djagelevo nahe der Provinzhauptstadt Rjasan sowie die strategische Basis Engels nahe Saratov in Südrussland. Dies führte zu Rufen nach einem harschen Durchgreifen quer durch den Generalstab und die Führung der Luftverteidigungstruppen. Nicht nur, weil die Drohnen im eigenen Hinterland eingeschlagen und an Abwehrsystemen vorbeigeflogen waren, sondern vor allem, weil mit Engels ein Stützpunkt der „nuklearen Triade“, zu der das land-, U-Boot- und luftgestützte Potenzial für einen Vergeltungsschlag gehört, getroffen wurde.Ukrainische Drohnen-Schläge auf russische Militärbasen könnten Eskalation provozierenIn Engels sind atomwaffenfähige Bomber der Typen Tu-160 und Tu-95 stationiert, von denen ein Flugzeug beschädigt wurde. Die Erkenntnis, dass mit sowjetischen Drohnen-Relikten strategische Trägerwaffen ausgeschaltet werden können, die im Ernstfall für einen nuklearen Gegenschlag aufzukommen hätten, führte zu einem Beben in der russischen Kriegsdebatte. Wenn ein Teil der „nuklearen Triade“ mit konventionellen Waffen bedroht sei und sogar zerstört werden könne, sei das eine Gefahr für die strategische Reichweite, so der Tenor. Dies habe Konsequenzen für die Zuverlässigkeit einer gegenseitigen Abschreckung, sollte in den USA wie dem Westen überhaupt der Eindruck entstehen, dass die nukleare Zweitschlag-Logistik Russlands ohne großen Aufwand neutralisiert werden könne.Andere Stimmen hoben einen weiteren Aspekt hervor – das unmittelbare nukleare Eskalationspotenzial. Gemäß der russischen Militärdoktrin können auch konventionelle Angriffe eine atomare Reaktion nach sich ziehen, wenn die „nukleare Triade“ in Gefahr ist. „Eine Bedingung für einen Atomwaffeneinsatz durch die Russische Föderation ist ... eine Feindeinwirkung auf kritische Militärobjekte, deren Ausschaltung einen nuklearen Gegenschlag unmöglich macht“, heißt es in jenem Schlüsseldokument. Nicht wenige „Falken“ in Moskau verwiesen darauf, dass die gegen eine Basis wie Engels anfliegenden Drohnen einen Teil der Zweitschlag-Kapazitäten akut gefährdeten.Theoretisch hätte das bereits einen Atomwaffeneinsatz auslösen können. Über die Kriegsfronten hinweg wird die Wahrscheinlichkeit, dass es tatsächlich dazu kommt, bislang als minimal eingeschätzt. Weitere ukrainische Operationen dieser Art würden denkbaren Szenarien allerdings auf fatale Weise Vorschub leisten, wenn die Militärdoktrin vorgibt, was aus Gründen der Verteidigung zu geschehen hat. Selbst in US-Medien wurden dahingehende Stimmen laut. Die New York Times warnte davor, dass ukrainische Drohnen-Schläge auf russische Militärbasen im Hinterland die „Einsätze steigen lassen“ und eine weitere Eskalation provozieren können.US-Militär liefert ukrainischer Armee Satellitenbilder und KoordinatenDass die ukrainischen Drohnen-Schläge gegen russisches Territorium dennoch fortgesetzt werden – und dies mit zunehmender Intensität wie größerer Reichweite –, wurde zuletzt vielfach deutlich. Die „Erlaubnis“ dafür hat Kiew von seinem westlichen Hauptalliierten bereits bekommen. Schon im Dezember titelten US-Medien, dass Washington der Ukraine „grünes Licht für Drohnen-Angriffe innerhalb Russlands“ gegeben hätte. Die Rede ist explizit von Aktionen, die bis tief in russisches Hinterland reichen. Ob das Pentagon auch gleich eine Liste mit Zielen mitgeliefert hat, ist unbekannt, aber wahrscheinlich. Schon seit Beginn des Krieges versorgt das US-Militär die ukrainische Armee massiv mit Geheimdienstaufklärung, Satellitenbildern und Koordinaten von besonders sensiblen russischen Objekten.Außerdem erklärte Kirill Budanov, Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes, Anfang Januar unmissverständlich, dass weitere Angriffe nicht nur geplant seien, sondern „tiefer und tiefer im russischen Hinterland“ ausgeführt würden. Details nannte er nicht, doch wurden die Drohungen in Russland mit größter Aufmerksamkeit wahrgenommen.Seither wird auf diversen Kanälen offen diskutiert, welche Objekte potenziell für ukrainische Flugkörper erreichbar sind. Das Brisante dabei: Auch Moskau läge theoretisch in deren Reichweite. Von ukrainischem Gebiet waren es bis Engels gut 700 Kilometer, bis Moskau wären es nur 500. So wurde für die Luftverteidigung der Hauptstadt bereits einiges getan. Ob Kiew eine solche Attacke tatsächlich in Erwägung zieht, darüber kann nur spekuliert werden. Gleiches gilt für die Reaktion, mit der in einem solchen Fall zu rechnen wäre.