Seit Wochen rücken russische Verbände Meter um Meter vor. Mittlerweile sind alle asphaltierten Straßen hinein nach Bachmut durchtrennt oder unter Beschuss. Zur Versorgung der Garnison und zum Truppenaustausch sind die ukrainischen Kräfte auf Feldwege in Richtung Chasiw Jar angewiesen. Doch sind die durch milde Frühlingstemperaturen aufgeweicht und durch schwere Technik zu einem regelrechten Schlammpfuhl geworden. Zahlreiche Videos von ukrainischer Seite zeigen, wie sich Militärfahrzeuge mit Mühe hindurchquälen und von zerstörter Technik behindert werden. Zu Wochenbeginn wollte die Führung in Kiew die Stadt zwar um jeden Preis verteidigen und durch eine Gegenoffensive den russischen Zangengriff durchbrechen – die Erfolgsaussichten dies
ieses Unterfangens schienen allerdings fraglich. Die Lage rund um Bachmut ist jetzt schon der empfindlichste Rückschlag für die ukrainische Armee seit Monaten, dazu ein herber Schlag gegen das kompromisslose Siegesnarrativ.Eine ganze PopkulturUmgekehrt sorgt das Vorrücken auf russischer Seite für wieder optimistische Töne, nachdem das Debakel von Charkiw im Spätsommer 2022 verkraftet werden musste. Umso bemerkenswerter ist die Tatsache, dass an der Spitze dieses Vorrückens nicht reguläre russische Truppen stehen, sondern die „Wagner“-Legionäre unter Jewgeni Prigoschin, einem Unternehmer, dem nachgesagt wird, ein enger Vertrauter von Wladimir Putin zu sein. Praktisch wöchentlich vermeldeten diese Verbände zuletzt die Eroberung von Ortschaften rund um Bachmut. Gnadenloses Vorgehen, sowohl gegenüber dem Gegner als auch den eigenen Leuten, gepaart mit militärischem Erfolg und einer unerschrockenen Selbstheroisierung, haben den „Wagners“ in Russland jetzt schon einen fast legendären Ruf beschert. Dazu beigetragen haben rabiate mediale Auftritte von Prigoschin selbst, der öffentliche Kritik am Generalstab nicht scheut und zu teils nicht zitierfähigen Anfeindungen gegen die Elite greift – Ausfälle, die sich kein regulärer Militärangehöriger in der Struktur des Verteidigungsministeriums erlauben dürfte.Eine ganze Popkultur ist mittlerweile rund um die Wagners entstanden – mit Symbolen, Fangruppen, Wagner-Zentren und Musikhits mit Klickzahlen in Millionenhöhe. Allein das Lied Wagner verzeichnet auf Youtube fast zehn Millionen Aufrufe. Zusammen mit anderen Songs in den sozialen Netzwerken erreicht die Wagner-Playlist ein Millionenpublikum. Und das nicht nur in Russland. Da ist es nahezu folgerichtig, wenn mobilisierte junge Männer in den Wehrämtern zuweilen darum betteln, in den Wagner-Truppen eingesetzt zu werden, statt in regulären Einheiten. Immer öfter kommt es zu Fällen, dass auch Offiziere der Armee kündigen, die Strukturen des Verteidigungsministeriums verlassen und freiwillig zu den Wagners gehen. Die Begründung ist fast immer identisch. Sie tun es wegen eines höheren Solds, größerer Handlungsfreiheit im Feld und eines klaren Bonifikationssystems. Wer zu Prigoschin geht, hat von verkrusteten Entscheidungsstrukturen genug.Rekrutiert wurde lange Zeit im Strafvollzug bei Gefangenen, die oft noch Jahrzehnte in Hochsicherheitsgefängnissen vor sich hatten. Sie bekamen ein äußerst einfaches Angebot: Weiter in einer Zelle eingeschlossen sein oder sechs Monate bei den Wagners kämpfen, entweder der „heldenhafte Tod“ oder die volle Amnestie. Wie viele Sträflinge darauf eingegangen sind, ist unbekannt. Wie viele überlebt haben, ebenfalls. Fest steht, dass die ersten Gruppen rekrutierter Strafgefangener amnestiert worden sind. Manche Wagner-Einheiten weisen eine fast schon groteske Zusammensetzung auf, wenn Ex-Militärs und -Polizeibeamte Seite an Seite mit verurteilten Schwerverbrechern kämpfen.Zugleich sollte man nicht in den Irrglauben verfallen, dass die Wagners nur aus enttäuschten Militärs und Ex-Sträflingen bestehen, denn das würde ihre Erfolge nicht erklären. Der Kern dieser Kombattanten besteht aus professionellen Kadern, die Jahre der Kriegserfahrung aus Konflikten weltweit vorweisen können. Das „Orchester“, wie diese Armee im Schatten in Russland umgangssprachlich genannt wird, war in Syrien, Libyen, Bergkarabach und etlichen afrikanischen Staaten im Einsatz. Es verfügt über eine Expertise, die kaum ein aktiver Militärbediensteter in Westeuropa aufbieten kann. Auch in der Ukraine dürften die Wagners mittlerweile die erfahrenste Einheit im Gefecht sein. Der Verhaltenskodex ist kompromisslos auf den Kampf zugeschnitten. Sowohl jeder Einzelne als auch jede Einheit werden für vorgerückte Kilometer belohnt. Die Einnahme von Ortschaften ist mit Prämien verbunden. Umgekehrt zieht jede Schwäche drakonische Strafen nach sich. „Verräter“ und „Deserteure“ werden zum Teil an Ort und Stelle erschossen.Rivalität mit SchoiguDer interne Wagner-Kodex und das brutale, aber zugleich so klare wie transparente Strafe-Prämien-System, gepaart mit dem Vormarsch an der Front, haben zu einer Bekanntheit der Gruppe in Russland geführt, die für das Verteidigungsministerium erkennbar zum Problem wird. Mittlerweile wurde es Prigoschin, angeblich auf Drängen hoher Militärs, untersagt, Rekruten aus Sträflingskolonien einzusammeln. Kurze Zeit später warfen Wagner-Kämpfer dem Ministerium vor, sie gezielt vom Munitionsnachschub abzuschneiden. Zugleich meldete Prigoschin, dass seinen Vertretern beim Generalstab die Akkreditierung entzogen wurde. Das Ministerium drehe den Wagners die Luft ab, titelten schon bald erste Blätter in Russland, was in der Kriegsdebatte hohe Wellen schlug.Vom „Machtkampf“ zwischen Minister Sergej Schoigu und Prigoschin ist die Rede. Vieles in dieser Rivalität dürfte vom Ausgang der Schlacht um Bachmut abhängen. Sollten die Wagners de facto im Alleingang eine der am schwersten befestigten Städte der Ukraine erobern, dürfte es umso mehr zu ihrer Etablierung in der russischen Öffentlichkeit führen und die öffentliche Position des Verteidigungsministeriums schwächen.