Eine neue Phase des Krieges in der Ukraine? Seit die russische Armee zu systematischen Angriffen auf die Infrastruktur des Gegners, auf Energietrassen und Kraftwerke übergeht, erhärtet sich dieser Eindruck. Das war besonders am 10. und 11. Oktober der Fall, als es zu mehr als hundert Schlägen quer durch die Ukraine kam. In Moskau war die Rede von „Tagen der Vergeltung“ für den Anschlag auf die Krim-Brücke, der nicht nur laut US-Medien auf ukrainische Geheimdienste zurückgeht. Auch Außenminister Dmytro Kuleba hat das soeben bestätigt, als er danach gefragt wurde.
Dabei sollte die Angriffswucht nicht als einmalige „Strafaktion“ verstanden werden, sondern als Ausdruck eines Strategiewechsels. Zwar erklärte Präsident Wlad
ident Wladimir Putin am 14. Oktober, dass es „keine Notwendigkeit für weitere massive Schläge“ gebe – „zumindest noch nicht“. Was künftig geschehe, werde noch entschieden. Ex-Staatschef Dmitri Medwedew schrieb, vorbei sei „nur die erste Episode, weitere werden folgen“. Schließlich erklärte Krim-Gouverneur Sergej Aksjonow, dass „die allgemeine Herangehensweise an die Sondermilitäroperation geändert“ werde.Man geht zudem nicht fehl in der Annahme, dass die jüngsten Angriffe auch etwas mit der Ernennung eines neuen russischen Kommandanten für die Ukrainefront zu tun hat, der den Krieg für Russland entscheiden soll. Seit dem 8. Oktober heißt der Oberbefehlshaber Sergej Surowikin, der in der Armee als Hardliner gilt und den Beinamen „General Armageddon“ trägt. Seine ersten Arbeitstage, die er mit den massiven Angriffen auf die ukrainische Infrastruktur einläutete, könnten ein Vorgeschmack darauf sein, mit welcher Strategie die Ukraine bezwungen werden soll.Gezielte Schläge gegen kritische InfrastrukturOffenbar hält der General die Zeit für gekommen, um zu einer komplexeren Kriegsführung überzugehen, bestehend aus einer durch die Teilmobilmachung eingreifenden „Heimatfront“, aus mehr Defensive an einzelnen Frontabschnitten und systematischen Angriffen auf das ukrainische Hinterland. Kiew soll wirtschaftlich und logistisch zermürbt werden, bis es sich zu russischen Bedingungen verhandlungsbereit zeigt. Einer solchen Agenda zu folgen wird von russischen Kriegsreportern seit Wochen, wenn nicht Monaten verlangt. Gezielte Schläge gegen die kritische Infrastruktur sollen bei minimalem Raketenverbrauch für maximalen Schaden auf drei Ebenen sorgen: auf taktischer, wirtschaftlicher und psychologischer.Aus militärischer Sicht ließe sich nur durch ein Ausschalten der ukrainischen Strominfrastruktur westlicher Waffentransfer neutralisieren, so die russische Kriegsdebatte. Der westliche Nachschub für die Ukraine braucht das Schienennetz, das durch flächendeckenden Stromausfall zum Erliegen käme. Zugleich sollten Raketenangriffe der ukrainischen Ökonomie dermaßen zusetzen, dass es sich irgendwann schlichtweg verbiete, den Krieg fortzusetzen. Nach ukrainischen Schätzungen setzte die russische Armee allein am 10. und 11. Oktober 30 Prozent der Energieinfrastruktur außer Kraft. Falls eine solche Angriffsdynamik über einen längeren Zeitraum hinweg aufrechterhalten werde, drohe ein Kollaps der ukrainischen Wirtschafts- und womöglich Staatsstrukturen.Der Westen kann hier kaum eingreifen, da allein der Europäischen Union eine defizitäre Energieversorgung schwer zusetzt. Noch vor Kurzem exportierte die Ukraine Strom in die EU, seit dem 11. Oktober nicht mehr. Energieminister Herman Haluschtschenko musste in Kiew einräumen, dass diese Leistungen wegen der Raketenschläge eingestellt worden seien, „um das eigene Stromnetz zu stabilisieren“. Insofern schlägt die russische Führung gerade zwei Fliegen mit einer Klappe: Die ukrainische Ökonomie wird zermürbt und die Energiekrise im Westen verschärft.Störsender gegen Shaheed-DrohnenZugleich verdient der psychologische Faktor Beachtung. Bislang war das Gros der Ukrainer bereit, die Nöte des Kriegs zu ertragen – auch weil das tägliche Leben nach dem ersten Schock in den meisten Regionen zu gewisser Normalität zurückfand. Viele Menschen gingen wieder zur Arbeit, Flüchtlinge kehrten heim, sogar das Nachtleben in Kiew oder Lwiw lebte auf. Zahlreiche Videos in den sozialen Netzwerken vermitteln, wie ausgelassen Ukrainer zuletzt in den Großstädten feierten und Erfolge ihrer Armee in Charkiw oder vor Cherson bejubelten. Der Krieg war zwar nie weg, fand aber seit April eher im weiter entfernten Osten und Süden statt.Auf einmal ist er zurück. Und das mitten in der Hauptstadt. Die jüngsten Angriffswellen offenbaren eine Verwundbarkeit, wie sie in dieser Form vielleicht nur am 24. Februar und in den Tagen danach wahrgenommen wurde. Ein Kollaps des Strom- und Heizsystems lässt sich weder wegfeiern noch von Siegesmeldungen überdecken. Schläge gegen die Infrastruktur könnten somit, falls sie in dieser Heftigkeit andauern, eine stark demoralisierende Wirkung entfalten. Auf die Stimmung des „Kämpfens bis zum Endsieg“ dürfte das vor allem dann Einfluss haben, wenn der Winter kommt.Die große Frage bleibt, ob Moskau diese Angriffe dauerhaft aufrechterhalten kann. Welches Raketenarsenal zur Verfügung steht, ist unbekannt. Ukrainische Quellen meldeten bereits im März, dass den Russen Raketen und Marschflugkörper „in zwei Wochen ausgehen“ würden – Fehleinschätzung oder Wunschdenken. Augenscheinlich sind Vorräte vorhanden, zumal nachproduziert werden kann. Eine weitere Unbekannte ergibt sich aus dem Waffentransfer des Iran. Seit September setzt das russische Oberkommando mit wachsender Intensität Shaheed-Drohnen ein, denen die ukrainische Flugabwehr bislang nur wenig entgegensetzen kann. Um die Frequenz ihrer Schläge zu halten, kann Moskau auf diese Aggregate setzen, sollten die Bestände an Iskander- und Kalibr-Systemen schrumpfen.Die Nato jedenfalls nimmt den jetzigen Kriegsverlauf erkennbar ernst. Generalsekretär Jens Stoltenberg warnte vor einer Niederlage der Ukraine, Nato-Staaten versprechen zusätzliche Flugabwehrsysteme und Störsender, um iranische Drohnen aufzuhalten. Ob dies so schnell wirksam wird, dass die ukrainische Infrastruktur vor weiteren Zerstörungen bewahrt wird, bleibt offen.