Damals, in München

Rainald Goetz Rainald Goetz bekommt den Büchnerpreis. Das ist sehr gut, sehr richtig, sehr überfällig, etwas erstaunlich. Eine kleine, von Missgunst nicht ganz freie Anmerkung

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Irgendwann wird sich auch „meine Generation“ mit der Frage befassen müssen, wie dereinst die Enkel zu langweilen sind. Kein „Kriech“, der die „Kohorte“ von außen formte und ihr, bei aller Unterschiedlichkeit der zeitgleich Beteiligten, etwas Einheitliches, Verbindliches überstülpte; kein aus ihr selbst kommender Impuls, aus dem sich dann für eine künftige zünftige Nachbetrachtung ein gewinnbringendes narratives Schema generieren ließe („wie wir die Welt verändern wollten“ vs. „wie wir uns erfolgreich einredeten, das System von innen zu reformieren zu wollen“). Noch nicht einmal die gegenteilssimple, sich im 68er-Bashing kompletterschöpfende Generation-Golf-Mentalität war uns vergönnt. Genau genommen hatten wir noch nicht einmal ein klares „uns“ bzw. ein ihm nominell zugrunde liegendes „wir“. „Wir hatten ja nichts damals“ – wenigstens dieser enkelvollsabbelnotorische Satz steht wie eine Eins.

Aber wir waren die 90er gewesen. Wir waren jung gewesen, und wir hatten in München gelebt. Wir waren Bestandteil der Zur-richtigen-Zeit-am-richtigen-Ort-Gang gewesen. Wir waren die, die wie nie wieder jemand nach uns genightlife‘t hatten. Wir, die Partymonster von Schwabing, die Messlattenhochlegegiganten von good ole Munic (A. Neumeister).

Waren wir? Nun, für den scheelen, herablassenden Seitenblick hatten wir die Eingeborenen. Die, die montags aus ihren mit „ing“ endenden Dörfern zurückkamen und die von Mutter vorgekochten Beutelchen in die Kühlschrankfächer ihrer Wohnheime und WG’s legten und sich einmal pro Woche an einem fest eingerichteten Abend vom Lernen erholten und unter der Leitung des Pimeisl Sepp (Name der Redaktion bekannt, dem Rest der Welt jetzt auch) zusammen fanden, um eine Partie Schafskopf zu dreschen.

Etwas später erschien dann „Rave“, der Literatur gewordene Live-Mitschnitt „dieser unserer“ Nächte. Rainald Goetz hatte sich von den eh nur rudimentären Romankonstruktionen sowie überhaupt vom Disponieren und Konstruieren und anderen ihm ranzig erscheinenden Formen und Formgesetzen der aufwendig von ihm verabscheuten „Kunscht“ verabschiedet und favorisierte jetzt das 1:1. Ein möglichst besessenes Lebenswirklichkeitsmitschreiben, das nicht großartig – großkunsthaft - unterschied zwischen belanglos und wichtig (oder gar: symbolisch), und bei dem auch nie etwas so kam, wie es „kommen musste“, sondern immer nur, wie es halt kam.

Wenn die Muse ihn schon küsst, dann soll sie ihm dabei bitte nicht den Blick verstellen

Dass das nicht geht, weiß er natürlich. Aber das Immer-weiter; das Ekstatische, bzw. – man entgeht ihm eben doch nicht, dem Feuilleton - : die Poetik der Ungeduld; seine gedrängten, drängelnden Mitschreibexzesse lassen keine Zeit für Fundamentalzweifel. Die Reflektion über die grundsätzliche Unmöglichkeit dieser Mittendrin-statt-nur-dabei-Literatur hält nur auf, also hält er sich nicht damit auf. Schließlich muss er ja weiter und weiter und immer weiter; die Realität immer und immer wieder und immer wieder neu anzupeilen und dann so knapp wie möglich zu verfehlen.

Doch wie macht er das? Und ich meine das, sehr Goetz-like, ganz konkret. Wie soll das gehen: So viel Abseitskrizzelei wie nötig und so viel Feiern wie möglich? Und wie ermittelt er, mathematisch gesprochen, das Optimum bei derart diametral entgegenstehenden Parametern? Wie haben wir uns die Nächte genau vorzustellen? Rainald Goetz als Großvater all derer, die jeden Partyfluss dadurch zerstören, dass sie ihn in Echtzeit für ihre Facebook-Freunde dokumentieren? Und was die per Fotohandy erledigen, machte er auch noch mit Bleistift und Notizzettel, was sogar noch zeitraubender und Exzess-sabotierender ist?

„Sachen, die ich mündlich erzählt habe“, lässt er uns in „Abfall für alle“ wissen, „kann ich nicht mehr schreiben.“ … „Die Schrift verhakt sich böswillig im Stummen. Und Stillesehnsucht und Schweigepflicht zerstören das Soziale.“ So weiß man es ja eigentlich schon spätestens seit Tonio Kröger. Nur dass bei Goetz keine Literaturtheorie der Negation formuliert bzw. der zeitliche Abstand als Erzählbedingung behauptet (oder selbst zum Bestandteil einer Erzählung) wird, sondern die „Verstrickung ins schwer Lösbare der gegenwärtigen Aufgabenstellung“ wird ausdrücklich (und vor allem eindrücklich) gesucht, das Scheitern in Kauf genommen – weil es eben nicht anders geht. Partymaniac, ja, klar, aber ebenso dringlich: Addicted to Schrift. Ein Nichtaustragen dieses kompromissunfähigen Konflikts würde nur zum verhassten „Als Motti nach zehn langen, bedrückenden Jahren seine Tochter … wiedersah“ führen.

Oder gehe ich ihm gerade auf den Leim? Und seine Verweigerung gegenüber der Hochkultur ist auch bei ihm Teil eines übergeordneten Gehorsams (und der Büchner-Preis wäre die verdiente Lohn-Strafe)? Und Loslabern, Abfall-für-alle-Absondern ist die genau richtige bzw. Goetz-gemäße, fraktale Antwort auf die generelle Überforderung von Formgepflogenheiten der schwer verelfenbeinturmten Hoch-Kultur: Und die Ablehnung dieser Kultur mit all ihren „Angeberwörtern“ und ihrem unaufhörlichen „appellhaften Einsatz“ ist seine Form des Anschluss- und dann eben auch wieder Formfindens. - Invektiven gegen die hohe Kunst der Kunscht, das war doch schon immer so, heben deren Gesetze nicht zwangsläufig auf. Und das könnte immerhin auch bedeuten: Die Prallheit der durchgetanzten Nächte ist lediglich behauptet, randständig beobachtet. Literatur eben.

Damit könnte ich mich ggf. beruhigen. Aber wieso will ich das eigentlich? Nun, seit der Lektüre treibe ich mich mit einer beunruhigenden Frage um: Warum bin ich ihm eigentlich nie über den Weg gelaufen? Die Locations waren mir bekannt, das rauschhafte Unterwegssein, die durch kurze Kötzerchens fragmentierten Aufwachgespräche ebenso. Und doch ist bei Goetz alles so viel – hm – geiler? Grauenhafter Verdacht: Das noch nicht ganz etablierte Nachtleben der 90er brauchte noch zweitrangige Feierer wie uns. Und ließ uns einmal pro Woche rein - am uns unbekannten und absichtlich vorenthaltenen Flachpfeifentag, an dem die Celebrity zuhause blieb. Sodass wir, die umsichtig im Unwissen Belassenen, fehlberauscht zu uncooler Musik über die Dancefloors gelärmt waren, während die Goetzes sich von ihren exorbitanteren Räuschen erholten.

Falls dieser Verdacht doch nicht allzu kokett ist, dann bleibt zu hoffen, dass die Erinnerung das macht, was seit jeher ihre vornehmste Aufgabe ist: der Vergangenheit etwas Rasanz beisteuern. Goetz hilft vielleicht sogar dabei, indem sich seine Beschreibungen mit den eigenen Erinnerungen „im Laufe der Zeit“ amalgamisieren.

Falls nicht, bleibt immer noch die Möglichkeit, im Familienplenum mit folgenden, zeitgeisthistorisch umsichtig transponierten Worten anzuheben: „Wisst Ihr, meine lieben Nachfahren: Die 90er, das waren die Jahre, wo gar nicht dabei war, wer sich an alles erinnert.“

Und dann, irgendwo zwischen kalkulierter Simulation oder vielleicht doch schon altersgerechter Vergesslichkeit, versinke ich in ein beredtes Schweigen. Oder besser gleich: Nickerchen.

Meine Enkel werde es mir zu danken wissen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Niklas Buhmann

Selbstironie ist die schlechteste aller Umgangsformen mit dem durch sämtliche Kränkungen zersetzten "Ich" - abgesehen von allen anderen.

Niklas Buhmann

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden