In den Weitläufigkeiten meines Soziallebens gibt es Saskia, 22, mit Tätowierungen übersäht. Das ist natürlich nicht sonderlich interessant, aber so kommt man ihr nicht davon. Mit einer Art vorgreifendem Ungehorsam schafft sie es, selbst bei belanglosen, „Tätowierungs-neutralen“, Ereignissen einen Bezug herzustellen. Kein Scheitern, kein Misslingen, bei dem ihre epidermalen Kunstwerke nicht irgendwie als Grund ins Spiel gebracht würden. Dabei gelingt es ihr, den Wunsch, noch wie vor 20 Jahren anzuecken, mit der demonstrativen Angeödetheit einer Person, die sich seit 20 Jahren die ewiggleichen Vorurteile anhören muss, zu verbinden, indem sie alle nonverbalen Register zieht (Stöhnen, Augen verdrehen, etc.). Saskia ist ein wenig klobig, ungeschlachtet, was einem den etwas unbedachten Gedanken einträgt, ihre „Selbstkasteiung“ sei ein vorgriffiger Akt, mit dem sie einer womöglich ungünstig für sie ausfallenden ästhetischen Bewertung zuvorkommen möchte. Ein Deutungsverfahren natürlich, das mich in die gleiche temporale Falle tappsen lässt, die ich gerade noch zum kritischen Kriterium machen wollte.
Sowieso ist dies nicht der Ort für Einzelpersonen-Bashing, sondern für quasi-hegelianische Fragen à la: was will uns die ewig umtriebige, jede unbedeutende Einzelmotivation für ihre Zwecke einspannende List der Vernunft damit sagen. - Vielleicht folgendes: Dass es sich bei Saskias in sich widersprüchlichem Anstoßerregungszwang um das Übersprungsverhalten eines jungen Menschen handeln könnte, der in einer Phase des weltanschaulichen Leerlaufs ins Leben gepflanzt wurde, wo er sich nicht absetzen, freikämpfen, via Auflehnung „finden“ muss.
Und damit sind wir bei Sinus, dem Report über die Jugendlichen von heute.
Der Befund ist eindeutig: Die Jugend von heute ist sauber, freundlich, der Konventionalität sehr zugetan, immerhin weltoffen, erfrischend unvölkisch, und hat einen der allseits beklagten Monadisierung erfreulich gegenläufigen Hang zur sozialen Muckeligkeit. Wenn sie „Mainstream“ sagt bzw. sich entsprechend selbstbezichtigt, will sie nicht mehr Dieter Bohlens Dreiakkordeuniversum geißeln, sondern lediglich in Zeiten der Unübersichtlichkeit in den Fluten des strudelnden Lebens mitschwimmen, ohne unterzugehen. Das Leben ist schon schwierig genug, da muss man selbst es nicht auch noch sein. Auch die Zeiten, in denen man noch gegen die Aufbegehrer aufbegehrte, sind over: der längst zum nervigen Topos gewordene nervige 68er-Lehrer mit seinen antiautoritären Zumutungen ist auf demselben zeitgeisthistorischen Komposthaufen gelandet wie die nur wegen ihrer schönen Anlautung gelegentlich noch zitierte lila Latzhose. Kein Dagegen, gegen das man sein eigenes Dagegen aufbauen und profilieren muss, um der in der Entstehung begriffenen Persönlichkeit dadurch Kontur zu verleihen –, und so verflacht die Chose halt und man kann sich endlich mit fundamentalen Fragen des Lebens beschäftigen: Wer bin ich, wer will ich sein, warum wurde ich nicht abgetrieben und wer steht mir bei?
Und da kommt ein Moment ins Spiel, das sich gerade auch viele „Konvertiten“, aka Ex-Linke, die „vernünftig“ geworden sind, offenbar zunehmend nicht nehmen lassen wollen: die Verpflichtung zur jugendlichen Rebellionsphase: wer nicht freundlich-kritisch auf sein eigenes jugendliches Kritischgewesensein zurückblickt, während er bei Springer anheuert, der hat offenbar nichts, worauf er freundlich-kritisch zurückblicken kann und war demnach nicht jugendlich. - „Wer sich an alles erinnert, der war nicht dabei“ und die Folgen für die eigene Stilisierung.
Der Grund dafür ist kein biografisch-nostalgischer, sondern so hart wie die Wirklichkeit, der man ohne Protestphase nicht gewachsen ist: Wer sich nicht freikämpft (und dabei ein bisschen elanbedingt übers Ziel hinausschießt), der lernt nicht zu kämpfen, und den kann die globalisierte Arbeitswelt nicht brauchen. Wer Visionen hat, der soll zum Arzt gehen, aber wer noch nie in seinem Leben Visionen hatte, dem helfen auch keine Pillen. Wer die entwicklungstechnisch vorgeschriebenen Stufen der Renitenz überspringt, läuft Gefahr, niemals richtig jung gewesen zu sein. Und zur Heranreifung einer mit allen Wassern gewaschenen, multiresistenten Persönlichkeit gehört zwingend auch eine Phase der Dissidenz. Am besten zwischen 14 und 16, wo man sich nicht gleich den Abi-Schnitt versaut, wenn man mal ein bisschen rumpunkt und auf drei plus abrutscht.
Zeit also für ein neues Schulfach: „Aufmüpfigkeit“. Dessen dialektische Vermittlung freilich ist eine Herausforderung angesichts dieses vollumfänglichen Strebertums, bei der die noch zu erstellende Webseite www.youngpersonsguidetotherevolution.com hilfreich sein könnte.
Kommentare 8
Die Aussage des Artikels ist mir verschlossen geblieben.
Sehr angenehm zu lesen. Als Ex-ex-Jugendforscher kommt mir die verzweifelte Lage der heutigen Population so um die 20 allerdings bekannt vor.
Schon die "kritische Generation" der 50er Jahre hatte es ausserordentlich schwer und hat darum den Typus "Halbstarker" entwickelt. Und so gings dann weiter und weiter und weiter.
War sonst noch was?
;-D
Zwang zur Aufmüpfigkeit finde ich lustig.
"...lediglich in Zeiten der Unübersichtlichkeit in den Fluten des strudelnden Lebens mitschwimmen, ohne unterzugehen. Das Leben ist schon schwierig genug, da muss man selbst es nicht auch noch sein."
Was ja nicht heißt, dass die "Jugend von heute" abgesehen von ihrer klugen Anpassungsfähigkeit nicht noch Überraschungen in der pipeline hat ;-)
Ich denke, wir dürfen der nachwachsenden Generation noch viel mehr an produktiven, konstruktiven und vor allem gemeinschaftlich orientierten Projekten zutrauen. Ein Beispiel sind die vielschichtigen crowdfunding-Aktivitäten und andere digitale (demokratisch basierte) Errungenschaften mit positiven Effekten, Bewegungen wie Car-Sharing oder Couch-Surfen, nur als Beispiele herausgepickt.
Im Nachbarblog über terminlich nicht passende Revolutionsveranstaltungen habe ich das Jugendwort des Jahres 2015 aufgeschnappt:
https://de.wikipedia.org/wiki/Smombie
zitiert von Gebe, das ein bemerkenswertes Symbol der bereits unumkehrbar stattfindenen Veränderungen zu sein scheint. Neulich hörte ich die Meldung, dass Ampeln eingeführt werden sollten, die auf das Smombie-Verhalten gesondert Rücksicht nehmen bzw. akustische Signale senden, da die Smombies durch Blick auf ihre Mobilgeräte in der Sehfähigkeit eingeschränkt sind.
Zuerst fand ich das absurd und idiotisch, aber: warum eigentlich nicht? Dem beschäftigen Fußgänger Freiräume zugestehen, damit er sicher über die Straße kommt, und nicht von irgendwelchen per Headset telefonierenden Autofahrerinnen umgefahren wird. :-P
Jetzt muss ich aber wirklich los.
Zweifel an der Validität der Jugendstudie ergeben sich trotz Veröffentlichung im renommierten Springer-Wissenschaftsverlag. Schon die Einteilung in sieben Einstellungsgrundtypen wirft Fragen auf (ein Beispiel: ist nicht die dem Tpy 1 zugerechnete Personengruppe mehr der konventionellen Moral als der Verantwortungsethik verhaftet?), die allerdings nur zu beantworten wären, wenn man die Studie detailliert kennt und die Einbettung der Klassifikationen in einen theoretischen Zusammenhang überprüfen kann. Es wäre also notwendig, die Studie etwas genauer vorzustellen, die wenigsten Interessierten werden 40 Euro ausgeben wollen.
Das Resümee ist unspektakulär, Mainstreamigkeit, Konformitätsbereitschaft, Pragmatismus und Realismus scheinen sich verstärkt zu haben. Das ist, da möchte ich Ihrem Verständnis für die angepaßte Vernunft, die freiwillige Perspektivverengung der nicht nur Frühreifen, sondern teils Frühvergreisten widersprechen, in Hinblick auf die Veränderbarkeit der Gesellschaft wenig erfreulich, jedoch sind auch hier Zweifel angebracht, ob nicht zu oberflächlich hingeschaut wurde.
Wäre es nicht angesichts Ihres Pseudonyms (mit dem schrecklichen B statt dem eleganten L) ganz reizvoll, einmal den Einfluß der funktionalen Differenzierung anstelle der Stratifizierung (oder sogar in Übereinstimmung mit einer differentiellen Stratifikation) auf die Einstellungsänderungen nicht nur der Jugendlichen zur Diskussion zu stellen?
»Dessen dialektische Vermittlung freilich ist eine Herausforderung angesichts dieses vollumfänglichen Strebertums, ...«
Da stellt sich doch gleich die Frage, ob die Jugend von heute mit solchen ollen Kamellen überhaupt was anfangen kann.
Dialektik ist eine jahrtausende alte Methode, mit der Mann oder Frau zu zwei Ergebnissen komen kann; dem richtigen oder dem falschen. Inzwischen ist die Welt komplexer geworden und funktioniert nach einer Multilogik oder Fuzzylogik.
Die Vermittlung einer willkürlichen Dialektik, auch noch in der Schule, also staatstragend, wäre eine echte Einschränkung der Möglichkeiten.
Aus irgendeinem Grund habe ich erst gestern abend die Benachrichtigung über die Kommentare bekommen. Daher erst mal ein verspätetes Danke!