Ein Präsident mit Namen Navid?

Bundespräsidentenwahl Ein Muslim als ranghöchster Repräsentant des Landes? Das. Und noch viel mehr. Ein Plädoyer für ein entschiedenes "warum eigentlich nicht?"

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Navid Kermani in seiner Dankesrede für den Friedenspreis, den er 2015 erhielt
Navid Kermani in seiner Dankesrede für den Friedenspreis, den er 2015 erhielt

Thomas Lohnes/Getty Images

In meiner Peergroup kommen sie eher selten auf: diese irgendwie in der Luft oder im Zwischenbereich grundsätzlicherer Problematisierungsmöglichkeiten hängenden Debatten mit begrenzter politischer Reichweite. Gespräche also, die sich an Fragen entzünden wie: „sollte man der schwächelnden SPD nicht mal unter die Arme greifen?“, oder: „wie kommt es, dass unter den vielen Themen, die die Welt bewegen, keines dabei ist, bei dem man unwillkürlich an die FDP denkt?“, oder: „was macht eigentlich Ronald Pofalla?“

Oder eben: „wer könnte der nächste Bundespräsident werden?“ Dabei wären solche sorgfältig zurechtgeschnippselten, mit einer Bedeutungsobergrenze versehenen Gespräche wahrscheinlich genau richtig für meine - wenn diese penetrant ironische Selbstanwendung nun schon sein muss -: Peergroup, oder gar „meine Generation“, deren verbindliches Narrativ sich eben nicht mehr zerknirschungsgediegen zwischen „weißt du noch, wie wir die Welt verändern wollten“ und „sieh, was aus uns geworden ist“ aufspannt. Das mickerige Wünschen und das ausschnitthafte Anthematisieren liegt unserer wie komplexitätsbewussten Kohorte quasi im dünnen Blut, entsprechend moderat fallen dann auch die Vorher-nachher-Abgleiche aus.

Fragen nach der SPD selbsterledigen sich demnach durch die zeitgleich eintreffende Gegenfrage: „Wozu eigentlich noch mal?“ Und die nach dem nächsten Bundespräsidenten durch: Geht es nicht auch ohne diesen unausgegorenen Hybrid, diesen König-light, diese Kreuzung aus Höchstadel und Ärmelschoner; diesen „Monarch auf Zeit“ (Alexander Grau)? - Ein Königreich also für eine Amts-Enthebung!

Innerlich haben wir uns wohl schon verabschiedet; jedenfalls kenne ich niemanden, der sich über die emporkömmlingshafte Schnäppchenjägermentalität (Augstein) eines Christian Wulff übermäßig aufgeregt hätte. Fragen nach der Amtsbeschädigung überließen wir getrost denen, denen ein unbeschädigtes Amt ein wirkliches Anliegen ist. Auch Zonen-Gabi-Gauck erduldeten wir. Zwar nervte uns seine Freiheit-Fixierung ebenso wie seine widerborstig daherkommen wollende grundsätzliche Einverstandenheit mit allem, was ihn irgendwie „marktkonform“ dünkte – aber wenn schon egal, denn schon egal.

Dann warf jemand den Namen „Kermani“ in die Debatte. Und ein Hauch von „warum eigentlich nicht?“ machte sich, soweit eine unausgesprochene Frage das tun kann, ehrfürchtig auf den Weg durch den Raum.

Und weil Ehrfurcht ein fragiles, artfremd gewordenes Gefühl ist, das in seiner reinen Form nicht lange vorhält, mischte sich recht bald eine Art hämische Vorfreude mit rein: auf den nun vollends entnervten Alexander Gauland, der sich erst mit einem „farbigen“ Fußballnationalspieler und dann auch noch mit einem muslimischen Präsidenten abfinden muss.

Wenn die Richtigen nicht abgeneigt und die Falschen eh die Falschen sind, muss es noch lang nicht richtig sein. Aber es könnte.

Dabei steht Navid Kermani seit seiner Grundgesetzrede von 2014 nicht nur bei den ihn ins Spiel gebracht habenden Grünen, sondern auch bei der Konservativen hoch im Kurs. Und so viel Dolby-Surround-Einverständnis ist immer verdächtig. Wenn sich so viele Seiten aus dem „politischen Spektrum“ begeistern, dann ist mit Sicherheit auch die falsche dabei. Oder aber alles ist so handzahm, uneindeutig, überparteilich – poetisch? -, dass die Geister, die sich dran scheiden könnten, längst eingeschlafen sind.

Es ist ja auch fast zu schön, um (in einem religiös-absolutistischen Sinne) wahr sein zu können: In seinen Aufsätzen ist Gott weder Master of Massaker, noch ein energischer Exekutionseinforderer, und erst recht niemand, der mal eben alles unter Wasser setzt, wenn er sich gerade nicht ausreichend wertgeschätzt fühlt – sondern eben, wie es in einem seiner Buchtitel heißt, „schön“. Tatsächlich: Gott ist schön. Und wer schön ist, benötigt keinen Holzhammer, nur Augen, die sehen. Wer schön ist, kann es sich leisten, der Eroberung die Verführung vorzuziehen. Entsprechend ist der Koran keine Sammlung von Totschlag-Argumenten, sondern eine Partitur, „der die gesamte Kultur des östlichen Mittelmeers eingeatmet hat und dessen Ausatmen jetzt unsere Kultur durchdingt“; eine Kostbarkeit, die darum ebenso vor der Flüchtigkeitslektüre zu bewahren ist wie vor der flugblättergleichen Verschenkung in deutschen Fußgängerzonen.

Diese auf den ersten Blick unverbindlich-anmutige Koranauslegung, die niemandem wehtut, könnte leicht als pflegeleichte missverstanden werden. Schlimmer noch: als Religionsrelativismus, wie er hierzulande - wesentlich mühsamer; durch jahrhundertelange Entwicklungen – ebenfalls vollzogen wurde. Nur eben in schnell. Wie in einem nachholenden Eilverfahren. Und das Mittel dieser Turbo-Entwertung: Ästhetik. Wobei das Ausweichen in Ästhetik an sich schon westlich wäre, Ausdruck einer kategorialen Unterordnung, da dem Prinzip der Postmoderne nachempfunden. Gott ist schön? Ein lediglich um uns Werbender, der jederzeit ein „nein“ akzeptiert? – Ja, so mögen wir den Islam, so darf er zu Deutschland gehören.

Navid Kermani - ein Vorzeige-Muslim?

Oder ein Reziprok-Sündenbock? (Und gibt es dafür eigentlich ein sinnvolles Wort?) Nun war ja bereits vor der postmodernen Beliebigwerdung Ästhetik keineswegs nur schön. Nachzulesen immer noch am besten bei Adorno. Oder, in diesem Zusammenhang zielführender: bei Kierkegaard. Und auch Kermani geht es nicht um eine sich selbst genügende Schönheit. Sondern ums Ganze. Reine Vernunftfixierung – die er als „religiöse Unmusikalität“ bezeichnet -, findet er verheerend, insbesondere da, wo auf die Ausschließlichkeit des rationalen Verstehens beharrt wird. „Aufklärung ist nicht nur die Herrschaft der Vernunft, sondern zugleich das Einsehen in deren Begrenztheit.“ Und das ist keineswegs die relativierende Einordnung durch eine gotthörige Vormoderne. Auch die Spätmoderne hat die Kritik der reinen Vernunft ja längst über die Kant‘sche Möglichkeitsbedingungen hinausgeführt und die buchstäbliche Selbst-Überschätzung als Geburtsfehler eingestuft. Mit Norbert Bolz zu sagen: „Die Aufklärung hat bekanntlich das Selbstdeuten, den mündigen Bürger und die bewusst gestaltete Geschichte propagiert - und sie hat damit das Komplexitätsproblem unterschätzt.“ Wie aber soll man mit Komplexität besser umgehen als demütig und indem man vom „Vulgärrationalismus“ (N.K.) ablässt? Glaube impliziert also auch eine Grenzmarkierung für eine sich sonst selbst überhebende Vernunft, wie sie sich in Phänomenen wie dem reinen Ökonomismus unserer Tage zeigt. Können wir Technokraten hier tatsächlich etwas vom Islam lernen?

Nun, von der „Pol-Pot-Version“ (N.K.), wie er derzeit das Bild des in Wirklichkeit vielgestaltigen Islam prägt, natürlich nicht. Aber dass der Blick des Gläubigen nicht ein verengender, ausblendungsfreudiger und Freund-Feind-Einteilungs-seliger sein muss, sondern im Gegenteil ein wahrnehmungsfördernder und detailfreudebegünstigender sein kann, zeigen seine Reisereportagen. Er kennt die Stätten und Städte des Vorderen Orients, die er vor allem als friedlich-fröhliche Schmelztiegel erlebt hat. Als Orte des freundschaftlichen Miteinanders unterschiedlicher Kulturen und Religionen. Mit ihren einladenden Teestuben, ihren Restaurants und Bars, in denen „dich keiner fragt, was du hast und was du bist“. Und was wie ein fehlplatzierter Peter-Alexandrismus anmutet, ist wiederum ernst gemeint. Navid Kermani würde eine arabische Teestube mit ihrer gastfreundlichen Meltingpoint-Atmosphäre jederzeit einer deutschen Eckkneipe vorziehen. (Dessen Stammbelegschaft im Übrigen auch autochthon-deutsche Zufällighereinschneier argwöhnisch zu beäugen pflegt, mit Blicken, die sehr wohl sagen, was du bist: nicht erwünscht.) Schon deshalb also volle Zustimmung. Seine Berichte gipfeln gerne im Lob der „absorbierenden Kraft“ des Islams, der sich – ganz ohne Schwert – sämtliche Kulturen, mit denen er in Berührung kam, unaufdringlich anverwandelt hat. Und sie lesen sich wie die Suche nach dem verlorenen Paradies.

Wer Visionen hat, der soll nach Bellevue gehen: „Europa ist ein Freiheitsprojekt“

Ähnlich absorbierend könnte auch das „europäische Projekt der Einigung“ verlaufen, das er darum auch weniger vom Ist-Zustand her beurteilt als auf das hin, was es werden kann, wenn man es sich nur behutsam entwickeln lässt. Der noch im Entstehen begriffene, fragile, z.T. ärgerlich behäbige und aufreizend glanzlose Staatenbund kann durchaus etwas vom „seinem“ Islam der sanften kulturellen Durchdringung lernen: Geduld. Die Kunst des Wartens. Darauf, dass das, was dereinst mal friedenstiftende Vision war und jetzt Chaos ist, durch langsames, kleinteiliges Ineinanderwachsen (und demnach weniger durch Schulz-haftes Weiter-Forcieren und Noch-stärker-Durchbürokratisieren) doch noch schöne Wirklichkeit wird.

Navid Kermani pflegt also keinen postmodernen Ausweich-Ästhetizismus. Und sein durchaus mit Pathos vorgetragener, gelegentlich salbungsvoller Ton ist nicht ausschließlich dem „System Religion“ geschuldet (und wäre es demnach auch nicht im „System Bellevue“), sondern offensichtlich Resultat eines aufmerksam gelebten Lebens.

Und so lässt sich die Eingangsfrage mit einem entschiedenen „warum eigentlich nicht?“ beantworten. Wenn es dieses Amt nun schon gibt und vermutlich weiterhin geben wird, dann ist ein interessanter Kopf einem uninteressanten jederzeit vorzuziehen. Vielleicht kommt sogar etwas frischer Wind ins graumause Alltagsgeschäft der Sonntagsrede. Das darf auch die, die mit Pathos ihre Schwierigkeiten haben und alles in allem etwas „amtsmüde“ geworden sind, erfreuen.

Oder ersatzweise eben die, die es nicht erfreut, ärgern.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Niklas Buhmann

Selbstironie ist die schlechteste aller Umgangsformen mit dem durch sämtliche Kränkungen zersetzten "Ich" - abgesehen von allen anderen.

Niklas Buhmann

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