Eine Gurke im Spreewald

Wolfgang Herrndorf Am 12. Juni 2015 wäre Wolfgang Herrndorf 50 geworden. Eine Würdigung unter schwierigen Umständen

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Eine – recht pragmatische und für den Hausgebrauch nützliche – Definition von guten Büchern könnte ja sein: Bücher, die man mehrfach liest und nach der Erstlektüre mit Vorfreude aufs nächste Mal ins alphabetische geordnete Regal stellt. Und ein respektabler und respektbezeugender Umgang mit einem Jubiläum könnte sein, den betreffenden Tag mit einem Kaffee im Bett und bspw. einer Kurzgeschichte aus „Diesseits des Van-Allen-Gürtels“ zu beginnen. Welche, ist eigentlich egal. Sind ja alle gut.

Welche also? Ich nahm, wie immer, den ersten Schluck in der Küche, schnappte mir das schmale Büchlein und ging in den Becher pustend die Treppe hoch – und plötzlich hatte ich ein Problem.

Man geht nicht ganz fehl, nähert man sich dem Werk Herrndorfs über den wenn auch schwer abgekämpften Begriff „Popliteratur“. Mag sein, dass seine Geschichten und Romane für Moritz Baßler zu „gebaut“ sind (gut gebaut sind sie mit Sicherheit) und so übers rein Archivierende hinausgehen, andererseits ist alles, was mit Pop und Party und Berlin-Mitte zu tun hat, drin aufgeboten. Auch fehlt keineswegs der angeschlagene, hier etwas müde, maulige Kackefindton, der sich so als Popliteratursound festgesetzt hat. Auch wenn dieser sich bei Herrndorf nicht ganz so Stuckrad-Barré-haft saftig in der reinen Vorführung der ewiggleichen Redensarten und derer, die sie benutzen, erschöpft. Eher ist es so, dass sich der Protagonist von Herrndorfs Erstling „In Plüschgewittern“, in einem dann existentielleren Sinne, selbst erschöpft.

Sehr Poproman-haft ist der Beginn des Romans: Eine Trennung, die sehr wohl eine Anmoderation des Elends; eine klassische Motivierung fürs anschließende Durch-die-Welt-Nörgeln sein könnte. Ist sie aber nicht. Wer so beiläufig rausrutscht und daran offensichtlich auch nicht gehindert wird, der scheitert eher am großen Ganzen als am kleinen Speziellen (und das dann eben eher vage als unter Wut oder Tränen). Die Trennung ist eher eine Bedingung fürs künftig Mögliche; ein Abbruch für den Aufbruch, der, wohin soll man auch schon, nach Berlin führt. („Ich weiß nicht, ob es besser wird, wenn ich nach Berlin gehe, aber ich muss nach Berlin gehen, damit es anders wird“, könnte man, einen Satz von Lichtenberg variierend, diese nur mäßig euphorische Aufbruchsstimmung beschreiben.) Selbst die nachgeschalteten Muffeligkeiten gegenüber der Ex machen einen eher egalen, pflichtschuldigen Eindruck - weil eine Trennung eben immer noch eine Trennung ist, „oder so“. Oder-so’t wird viel bei Herrndorf. Diese nachgestellte Lakonie, die jede wie aus Versehen genau beschriebene Gefühlsregung gleich wieder in Frage stellt, zu einer rein optionalen Benennungsmöglichkeit degradiert, wird in seinem Oeuvre noch oft eine Rolle spielen: Es wird immer wieder vorkommen, dass ein Erlebnis ihn „an etwas sehr Unbestimmtes erinnert, an trübe Klassenfahrten oder 1. Liebe oder Nachmittage unter bleischwerem Himmel“. Da kann man halt mal durcheinander kommen. Gefühle versickern in ihren unendlichen Zuschreibmöglichkeiten und enden – ja worin eigentlich?

Immerhin. Auch das richtige, gesetzte Feuilleton hat es bei der Mehrwertbenennung schwer, und es fällt daher häufig der Begriff „Melancholie“, der wohl auch nicht verkehrt ist.

Zwischen Bye, bye baby und Berlin gibt es noch einen Zwischenstopp beim Bruder: Dort wird noch aus Nullsätzen und anderen fröhlichen Dummheiten ein sauberes, famoses, vorhersehbares Reihenhausleben zusammengebastelt, so dass es dem von diesem falschen Leben angepisst Schwelgenden eine große, verdrehte Lust ist.

Besonders verhasst: die Schwägerin, die es sich nicht nehmen lässt, unaufgefordert von ihrem Umgang mit Obdachlosenzeitungsverkäufern zu erzählen und nachgerade zu schwärmen. Denen gibt sie den exakt korrekten, eingeforderten Obolus und nicht etwa mehr, da dies auf Bettelei verweisen würde. Diese Berichte, so könnte man als Leser selbst mal kurz muffelig werden, kennt man nicht nur aus dem eigenen, wahren Leben, sondern man hat mindestens auch schon einmal zu oft in satirisch-bloßstellender Absicht etwas von diesen Korrektzahlern gelesen oder gehört, aber trotzdem ist man ja nicht abgeneigt und auf Seite des Ich-Erzählers: Ja, tu Gutes und halt die Klappe (bzw. tu Wertneutrales, dann kommt Klappehalten wie von selbst, denn über einen Vorgang wie den ordnungsgemäßen Erwerb einer Zeitung muss man ja keine Worte verlieren; worüber also redet sie?).

Dann endlich geht es nach Berlin, wo, wir ahnen es, vieles anders und nichts besser wird.

Zurück zur Bettlektüre. Ich entschied mich für „Im Oderbruch“. Ich erinnerte mich noch gut ans Setting: der Ich-Erzähler, der vom Kanufahren zurückkommt und feststellen muss, dass sein Auto gestohlen wurde. Er befasst sich kurz mit einer merkwürdigen Angst vor den Dieben (die doch wohl über alle Hügel sein dürften; ein Auto haben sie ja) und geht aufs Geratewohl los. Er erreicht ein Haus, klingelt, wird durch ein unfreundliches Mädchen, eine Art Göre, zunächst abgefertigt und weggeschickt, dann doch reingelassen, es werden ein paar unherzliche, typische Aneinandervorbeidialoge der Marke Herrndorf absolviert, es geht durch einen Keller, den ich noch genau vor Augen habe (bzw. ich habe natürlich das genau vor Augen, was ich mir bei der Erstlektüre vorgestellt hatte); es wird Tischtennis gespielt, um die Wartezeit auf die telefonisch informierte Polizei herum zu bringen, dann erscheint ein zwei Meter großer, den Ich-Erzähler mit „du Gurke“ begrüßender und irgendwie bedrohender Besucher, der vielleicht ein Freund der Göre ist, vielleicht auch nicht-

-dann klappte ich das Buch zu, noch bevor ich es geöffnet hatte.

Ich „recherchierte“. Rund acht Jahre musste es her sein, dass ich die Geschichten, alle nacheinander weg, gelesen hatte. In dieser Zeit war viel passiert, geht ja nicht anders. Die Geschichten hatten mir gefallen, sie waren lustig, mir sagte die Stimmung zu („Melancholie“), und wie oft bei Autoren, die ich mag, waren mir die Helden zu Freunden geworden (wer eine dreistellige Anzahl von Facebook-Freunden hat, darf auch mit Herrndorf-Figuren befreundet sein), zumal er viele Situationen beschrieben hatte, die mir selbst nicht unbekannt waren (die eine oder andere Dachparty unterm Himmel von Berlin hat es im Laufe der Jahre wohl gegeben) - das manchmal unentschlossene Drumherumgefühle sowie Anfälle von „Was mache ich eigentlich hier?“ inklusive.

Und herzlich egal waren mir eigentlich immer die Rahmenbedingungen, die Umgebungen, die konkreten Situationen gewesen, in denen sich die melancholische, maulfaule Muffeligkeit Bahn gebrochen hatte.

Das Tischtennisspiel hätte auch Mühle sein können, der nebenher konsumierte Wein Bier, das garstige Mädchen ein Rotzlöffel, der gestohlene Wagen – okay, der musste schon sein, zum Kanutransportieren, aber das Kanu hätte auch ein Snowboard sein können. Wenngleich – nein, hätte es nicht. Ein Snowboard ist zu sehr Lifestyle; gewissermaßen zu avant Après-Ski und wer sich beim Lesen nicht die Ohren zuhält, läuft Gefahr, dass eine falsche Tonspur mitläuft und DJ Ötzi einem den Lektürespaß vergällt. Genau betrachtet ist ein Kanu schon die beste Wahl. Klingt, ohne dass es man noch extra dazusagen muss, mehr nach dem einsamem Tun eines Wochenendberliners, der nicht weiß, was er tun soll, also geht er Kanufahren. So wie es unaufdringlich nach „abseits der Touristenpfade“ klingt (wobei dieser längst Pauschalreisenprospektspruch gewordenen Satz natürlich unterbleibt). Doch, das Kanu ist, fast möchte man sagen: alternativlos. (In einem notwendigkeitsbewussten System wie der Literatur gehen solche Wörter ja wieder.) Und, wenn ich schon dabei bin: Eigentlich befindet sich in den Geschichten alles am richtigen Ort.

Freilich weiß man das alles schon. Autor ist nicht gleich Held, Schulstoff. Mal klafft es mehr, mal weniger auseinander. Und dieser Autor war auch noch Maler, und demnach in der Lage, jenseits der absichtlich unpräzisen, immer wieder verschluderten Beobachtungsgenauigkeit seiner luschigen Figuren, und trotz aller Gefühlsrelativierungen, Rücknahmen und Oder-so’s ein sehr präzises Setting zu bauen; einen sehr konkreten und offensichtlich eindrücklichen, ja, hier ist es vielleicht erlaubt, zu sagen: nachhaltigen Hintergrund bereit zu stellen.

Trotzdem. Dass ein ehemaliger Maler sich beim Hintergrundpinseln Mühe gibt, und dass demnach alles von einem fürsorglichen Autor perfekt und diskret arrangiert wurde, erklärt ja nicht die geradezu proustische Erinnerungsleistung des keineswegs mit einem eidetischen Gedächtnis behafteten oder bestraften Lesers, der ich vor acht Jahren war. Wozu hatte ich auf die Luschigkeit des Protagonisten abonnierter, an abstruser Weltüberdrüssigkeit interessierter Leser so viele Details so genau abgespeichert, dass ich meine eigene, schöne Hausgebrauchsdefinition von guten Büchern nun wegschmeißen kann und, anstatt die höflichst denkbare Form von Paparazzitum abzustatten, nun ja, aufstehe, unter die Dusche gehe, das Fenster öffne, noch einen Kaffee aufsetze, und was man halt so macht, wenn man nicht im Bett bleibt?

Oder gibt es ein Gesetz, das etwa so lauten könnten: Je verwahrloster die Weltwahrnehmung des Protagonisten, desto größer der Hintergrundaufwand für den Autor? Je flacher und erniedrigter und irrlichtender die zentrale Figur, desto höher müssen die Welterbauerschultern sein, auf denen er rumturnt?

Mag sein. Oder so: Sollte die Biometrisierung des Lebens doch irgendwann auch den Literaturbetrieb totalerfasst haben (was hoffentlich niemals geschieht) und mittels genauester algorithmischer Evaluierung ein Amplitudenschema für die Differenz zwischen Weltwahrnehmungsgenauigkeit des Autors und der des Dadurchlatsch-Protagonisten ermittelt haben, dann wäre Wolfgang Herrndorf ein hoher Score-Wert gewiss.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Niklas Buhmann

Selbstironie ist die schlechteste aller Umgangsformen mit dem durch sämtliche Kränkungen zersetzten "Ich" - abgesehen von allen anderen.

Niklas Buhmann

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