Unna, in Massen

Flüchtlingslager Ein Besuch in der Flüchtlingsstelle, ganz ohne Nazis oder „besorgte Bürger“.

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Noch bevor ich positiv überrascht bin, bin ich geblendet. Zwei Flutlichtmasten werfen eine gewaltige Lichtflut über die darum erst mal gespenstisch anmutende Szenerie. Eine möglicherweise kollektiv-archetypische Mulmigkeit stellt sich ein, der auch 50 Jahre Bundesligaflutlichtspiele nichts anhaben konnten. Ich schaue kurz auf meinen Anhang, der so dasteht, wie ich ihn stehen gelassen habe, irgendwie angewurzelt; wie durch unangenehme Erinnerungen gebannt, die in diesem Fall nicht vorindividuell sind: Vor zwanzig Jahren haben sie selbst an einem ähnlichen Ort gestanden. Nicht bestellt und nicht abgeholt (auch nicht von Sigmar Gabriel).


Ich frage mich, ob diese grelle, ihr Provisorischsein betonende Überbeleuchtung; ob die Übergangslösungisierung in einem Lager, das immerhin zuletzt 2012 wiederöffnet wurde, zu Demonstrationszwecken gewollt ist – „seht mal, wie viel Mühe Ihr uns macht“ -; wie ja überhaupt der Reiches-Land-arme-Kommunen-Dualismus ein finanzielles Belastetsein suggeriert, mit dem sich gut wutbürgern lässt. Ein kompakterer, auf all seinen Ebenen gleich gut ausgestatteter und sich ausstattender Staat würde die Flüchtlingsfrage nicht nur nicht abwälzen (und die, auf die abgewälzt wurde, zum Outsourcen zwingen), sondern wäre in der Lage, das Reden von „westlichen Werten“ mit entsprechenden Taten unterlegen.


Als endlich wieder Dunkel ins Licht kommt, bin ich erstaunt. Weil schon drin. Das Lager, in dem ich mich befinde, ist gar kein Lager. Darum heißt es übrigens auch nicht „Lager“, sondern „Landesstelle für Aussiedler, Zuwanderer und ausländische Flüchtlinge in Nordrhein-Westfalen“. Und liegt nicht etwa vor den Toren der Stadt, sondern ist Teil einer noch partiell – wie soll man sagen? – : festbewohnten Siedlung.


Als erstes erkenne ich eine Art in die Breite gezogenes Zechenhaus mit einem großen, wohl nachträglich eingebauten Panoramafenster, das mir den Blick ins Wohnzimmer eines mutmaßlich frührentnernden, mit dem Rücken zum Betrachter sitzenden Fernsehpäärchens ermöglicht. Ein Bild, das mindestens zwei Artikel ikonografisch illustrieren könnte: Zusätzlich zum vorliegenden noch einen das Ausgespähtwerden unserer Tage etwas aufdringlich beleuchtenden.


Beim näheren Hinschauen sehe ich den etwas mehr als eine Armlänge von seiner Frau entfernt sitzenden Mann mit einem Kugelschreiber auf eine immer wieder wegknickende Fernsehzeitschriftunterlage kritzeln. Was mag er wohl schreiben? Man hat da so, bildzeitungsgeplagt, wie man halt auch als unüberführter Bild-Nichtleser ist, seine schnappatmigen Einfälle: „Ich bin ja grundsätzlich damit einverstandenen, dass man Menschen, die wirklich in Not sind (wirklich unterstrichen) helfen muss, aber…“


Ich zerknülle meinen böswillig untergeschobenen Brief wieder und stelle fest, dass das Aufkommen der Kreidefress-Rechten à la AfD vielleicht auch seine Vorzüge hat. Seit der Xenophobe geschmeidiger geworden ist und selbst die CSU an der PC-Schraube zu drehen begonnen hat und Maut-halber von „Fremdnutzern“ redet, statt bierzeltgerecht gegen Weltsozialamtsschmarotzer zu wettern; und weil dadurch „ich bin sind ja grundsätzlich damit einverstanden, aber…“ der neudeutsche Zivilcode ist für „die sollen hingehen, wo sie herkommen“, bleiben vielleicht einige St.-Florian-Anwandlungen auf halbem Weg zur „Empörung“ stecken, und so manch einer, der eigentlich im grauzonalen Bereich von Abwehr einerseits und Verständnis andererseits angesiedelt ist, schweigt lieber besonnen aus Furcht, als „besorgter Bürger“ zu gelten, und nimmt moderate Formen von Kollateralschäden in Kauf. Und dass die Totalausleuchtung ein Handicap ist in dieser Siedlung, die ohnehin einen etwas, sagen wir, investorenversehrten Eindruck macht, mit ihren zweiter Anstrich gewordenen Höchst- oder Phönix-Verwehungen, lässt sich nicht bestreiten. (Und dass es im Zweifelsfall die am wenigsten Privilegierten sind, die gegen den „unbegrenzten Zustrom von reinen Wirtschaftsflüchtlingen“ aufgehetzt werden und sich manchmal leider auch aufhetzen lassen, lässt sich halt auch nicht bestreiten.)


Umso erfreulicher, dass ich unweit von mir eine Frau mit kleinen Kuchenstückchen sehe, Donauwellen, wenn ich mich nicht täusche. Wobei sie bewusst in „Männe-Rufweite“ verbleibt. Schräg über ihr: ein vom Balkon winkender, gestenreich und lautstark zischender Unterhemdgatte, der sie vergeblich ins Licht zu dirigieren versucht. Sie hält ihre Donauwellen hin wie ein Kind auf dem Flohmarkt, das seine kaputten Playmobilfiguren feilbietet.


Nur wenige Meter daneben ein weiterer Fall von hilflos wirkender Hilfe; ein mit einer Kabelrolle hantierender Anwohner, in einen Disput mit einem Rotes-Kreuz-Mitarbeiter vertieft. Der Rotes-Kreuz-Mitarbeiter schüttelt den Kopf, es sieht aus, als würden Kompetenzwörter wie „Starkstrom“ und „Wechselstrom“ ausgetauscht und immer entschiedener in Opposition gebracht. Schließlich nickt der Anwohner und trollt sich achselzuckend ins Haus zurück.


Aber ich bin nicht zum Beobachten, sondern zum „Recherchieren“ hier: Wo sind die Verwandten meiner immer noch am Quasi-Eingang verbliebenen Begleiterinnen untergebracht? Ich nähere mich einem höchstens 20 Jahre alten, mit rot-orangener Weste und einem Klemmbrett behafteten Mann, der ruhig und freundlich eine Schlange von etwa 30 Wartenden abarbeitet. Ich will mich nicht vordrängeln, die Wartenden gebieten mir aber genau das; es entsteht ein Höflichkeitsstreit, bei dem ich schließlich einlenke. Weiteres Beharren auf Inter-pares würde die Sache nicht nur insgesamt verzögern, sondern irgendwann auch in Understatement umschlagen: Ich bin dann der mit der Macht, in aller Bescheidenheit sein Bevorzugtwerden abzulehnen.

Dabei ist es erstaunlich, wie ungerührt diese Störung hingenommen wird. Eine Gelassenheit, die schon an Gottvertrauen grenzt. Gründlichkeit und Umständlichkeit sind nicht nur besser sind als das, wovor man floh, sondern wie’s scheint auch Garant fürs letztendliche Ins-Lot-Kommen: Deutschlands Mühlen mahlen langsam, aber sie mahlen bis zum feinkörnigen Ende – und wer in einer Reihe steht, der kommt auch an die Reihe.


„Herkunftsland?“, wendet sich der Rotkreuzler an mich.

„Mazedonien“, erwidere ich.

Pause.

Perfide Pause? Und woran erinnert mich „perfide“, rein klanglich betrachtet? Sofort bin ich eingeschüchtert und frage mich, ob ich mich hier zum Fürsprecher von „Asylanten zweiter Klasse“ mache.

Ich suche schnell alles an patziger Entgegnung ab, was da ist: „Natürlich liegt keine klassische politische Verfolgung vor. Aber es ist die Politik, die die Verfolgung persönlicher Ziele bestimmter Volksgruppen verhindert, und das so unscheinbar, so scheinbar unpauschal, dass sie eine indes sowieso nicht so genau hinsehen wollende EU-Kommission damit zu täuschen vermag. Und dadurch treibt sie die betreffenden Gruppen in Lebensumstände, die sie ihnen dann als Grund für die Aussortierung vorhalten kann. Also der bekannte Regelkreis von Vorurteil und Umständeschaffen, der sich durch aufopferungsvoll betriebene Gegenseitigkeit in Gang hält…“


Meine Galligkeit erweist sich als etwas praecox: Er musste lediglich das für meine Anfrage falsche Klemmbrett niederlegen und herausfinden, welches der anderen vier zu seinen Füßen liegende das richtig ist. Überhaupt wirkt er sehr umgänglich, hochfrequenzfreundlich geradezu, da er bei aller Hektik eine Ruhe ausstrahlt, die ins Manuel-Neuersche tendiert.


Noch bevor er fündig wird, sehe ich, dass man schon ohne meine Hilfe zueinandergefunden hat. Ich werde herbeigewinkt und vorgestellt: den zwei Cousinen und dem Cousin meiner zwei Begleiterinnen. Wir gehen in „unsere“ bereits zugeteilte Wohnung und treffen dort jemandem, der etwas älter ist und „Vuitje“ genannt wird. Von ihm weiß ich, dass es neben der Minimalchance auf Aufnahme vor allem ein ausführlicher Gesundheitscheck ist, auf den er spekuliert: Eine Vielzahl von Ödeme, die im Heimatland nur unzureichend behandelt werden können, müsste dringend mal inspiziert werden und nach Möglichkeit eben auch behandelt.


Die Frauen fangen an zu putzen, die Männer an zu stören. Und flüchten zigarettenschmauchend auf den Balkon. Eine fast gender-studies-sabotierende Selbstverständlichkeit, mit der hier jeder seine Rolle findet – was so mancher dann mit Natürlichkeit verwechselt. Hallo Sie, werde ich angerufen, die Feldbetten sind eingetroffen. Ich? Nun, warum nicht. Ich storche vorsichtig durchs zwecks gründlicher Säuberung erst mal komplett unter Wasser gesetzte Wohn-Schlaf-Zimmer, wo laute und – kreidefresstechnisch gesehen - „gewöhnungsbedürftige“ Volksmusik den Raum erfüllt.


Ich folge dem Mann, der mich rekrutiert hat, in ein Zelt voller Feldbetten; aufklappbare, unbequemlichkeitsverheißende Liegen mit einer wohl aus Polyester bestehenden Schlaffläche. „Und ich kann jetzt hier so einfach…?“ - Ich kann. Und bin zum vierten Mal erstaunt über das nicht nur freundliche, sondern in diesem Fall auch undeutsch-legere Gewährenlassen, welches den Eindruck aufkommen lässt, dass auf den unteren, im eigentlichen Sinne arbeitenden Ebenen längst nicht so heiß serviert wird, wie es auf den übergeordneten Entscheidungs- und Diskursstiftungsebenen hochkocht.

Kein Klemmbrett zum Abhaken, kein „unterschreiben Sie bitte unten rechts“, Ich soll mir so viele nehmen, wie ich brauche. Wo denn die Getränke zur Erzielung der unter diesen Umständen erschwerten Bettschwere, der Feldbettschwere, zu finden sind, frage ich trotzdem lieber nicht. Mich dafür, ob ein Bier hier reichen würde. Oder zwei? Dann doch besser ein Schnaps? Ein Korn im Feldbett? - Über mazedonische Volkslieder lästern und dann Jürgen Drews nicht aus dem Kopf kriegen.


Von der privaten Vorsorge zur privaten Fürsorge


Ich beschließe, für den „Vuitje“ eine zusammenklappbare, d.h. tagsüber zum Sessel umfunktionierbare Matratze zu kaufen und werde kurz grundsätzlich: Darf ich das? Gehen Ansprüche verloren? – Und ist dies die Art Hilfe, die sich dann verselbstständigt? Und zur Teilhabe am Unrecht wird? Indem sie für den Staat falsche Anreize setzt? Weil der sich gerne da, wo es nichts zu verdienen gibt, zurückzieht und deshalb auf ebendiesen Reflex setzt?

Und Gaucks Urteil über sein Volk und dessen Weltoffenheit würde wider Erwarten stimmig – zumindest in dem self-fulfillenden Sinne, der schon bei den Bankeinlagen die gewollte Wirkung hatte; als Fiktion, die Fakten schafft?

Und was wäre andererseits so schlimm daran, angesichts ganz anderer Fakten, die einem zu schaffen machen? Droht das Tafelprinzip - jemand hat eine menschenfreundliche Idee, es wird eine Institution daraus, Versorgungswege spielen sich ein und der Staat ist wieder um eine Fürsorgepflicht schlanker?


Draußen geht mir ein weiterer DRK’ler zur Hand. Das müsste dann der fünfte freundliche Was-zu-sagen-Habende sein, langsam wird es unglaubwürdig. Lügenpresseverdächtig. Was kommt wohl als nächstes? Anwohner, die Decken herbeitragen? Ja, auch das noch: Der, wenn ich mich nicht täusche, Gattin der Donauwellenanbieterin schreitet Richtung Feldbettzelt, fünf zusammengefaltete Wolldecken vor sich hertragend. Hilfe leisten ist offenbar ansteckend, und ich beschließe, zur Klappmatratze noch ein paar Kissen in meinen imaginären Warenkorb zu legen. So geben sich die gebenden Hände (Sloterdijk) die Klinke in die Hand.

Fazit I: Man kann es mir einfach nicht rechtmachen. Schamhaft offerierte Donauwellen, ein freundlicher, auch im Multi-Asking-Stress ruhig und verbindlich bleibender Rot-Kreuz-Mitarbeiter, dann noch ein freundlicher Mitarbeiter und dann noch einer. Eine unglaubwürdige Verdichtung potentiell würdiger Bundesverdienstkreuzempfänger (sind jaeinige freigeworden). Wo sind die Glatzen, wenn man sie mal nicht braucht? (Erst später erfahre ich: randalierend in Dortmund.)


Fazit II: Hilfe ist dringend geboten. Und Teilprivatisierungen können hier (anders als, sagen wir, bei der Bahn), durchaus Sinn machen, wie in Augsburg, wo der „Notstand“ zu einem gemeinsamen Projekt von Stadt, Anwohnern und Flüchtlingen führte, das neben der Grundversorgung auch Integration, um nicht zu sagen: Interkulturalität befördert.


Denn, Fazit III, Humanität ist alternativlos.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Niklas Buhmann

Selbstironie ist die schlechteste aller Umgangsformen mit dem durch sämtliche Kränkungen zersetzten "Ich" - abgesehen von allen anderen.

Niklas Buhmann

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