Von einem Zeitungskiosk im Zentrum São Paulos blicken zwei Männer auf die vorbeieilenden Passanten herab: Amtsinhaber Jair Bolsonaro und Ex-Präsident Luiz Inácio „Lula“ da Silva. Die Porträts der beiden Präsidentschaftskandidaten sind auf Handtücher gedruckt, die zum Verkauf angeboten werden. Ihren Namen will die Besitzerin des kleinen Geschäfts nicht verraten, was sie aber sagen kann: „Ich verkaufe kaum Bolsonaro-Handtücher. Die von Lula laufen viel besser.“ Diese Tendenz spiegelt die Umfragen kurz vor der Präsidentenwahl. Am 2. Oktober wird in Brasilien abgestimmt. Kommt kein Kandidat in der ersten Runde auf über 50 Prozent der gültigen Stimmen, gibt es am 30. Oktober eine Stichwahl. In allen Erhebungen l
n liegt der Sozialdemokrat Lula klar vor Bolsonaro. Der rechtsradikale Amtsinhaber hat in dreieinhalb Jahren eine Spur der Zerstörung hinterlassen und die Uhr in mancher Hinsicht zurückgedreht.Wasser auf die Mühlen2018 war es ihm gelungen, viele Wähler hinter sich zu bringen, indem er sich als Anti-Establishment-Bewerber inszenierte und es verstand, die sozialen Medien in Dienst zu nehmen. Diesmal fällt es ihm schwer, in ähnlicher Weise erfolgreich zu sein. Allein eine schwere Wirtschaftskrise und dadurch wachsende Armut verhindern das. Jair Bolsonaro hatte gehofft, dass ihm Massenproteste zum Aufschwung verhelfen. Am 7. September gingen am Nationalfeiertag Hunderttausende seiner Anhänger für „ihren Präsidenten“ auf die Straße. Doch der gewünschte Effekt trat nicht ein, im Gegenteil: In den Umfragen fiel der Amtsinhaber gegen seinen Konkurrenten weiter ab, auch sozialpolitische Maßnahmen zeigten kaum Wirkung. Weil der Kongress die Obergrenze für Staatsausgaben kassiert hat, steht drei Monate lang deutlich mehr Geld für Sozialleistungen zur Verfügung. Das sollte dem angeschlagenen Staatschef eigentlich mehr Zuspruch bringen. Bisher jedoch schlägt sich das nicht in Umfragen nieder. Was Bolsonaro ungelegen kommt: Zwei Journalisten des Online-Mediums UOL deckten auf, dass die Bolsonaro-Familie 51 ihrer 107 Immobilien mit Bargeld gezahlt haben soll. Prompt muss sich der Präsident, der gern als Kombattant gegen Korruption und Vetternwirtschaft in Erscheinung tritt, nun des Vorwurfs der Geldwäsche erwehren.Der notorische Antidemokrat setzt seit Monaten darauf, den Wahlprozess an sich in Frage zu stellen. Er verbreitet Lügen über das elektronische Wahlsystem und insistiert: „Nur Gott“ könne ihm die Präsidentschaft entziehen – das ist Wasser auf die Mühlen radikalisierter Stammwähler. Nicht wenige befürchten ähnliche Bilder wie Anfang Januar 2021 beim Kapitol-Sturm in Washington, einige sogar einen Putschversuch. Doch für einen klassischen Staatsstreich dürfte es Bolsonaro an Rückendeckung fehlen. Es gibt in diesem Land eine aktive Zivilgesellschaft und eine ebensolche Medienkultur. Selbst unter hohen Militärs ist Bolsonaro – er ist Hauptmann der Reserve – nicht unumstritten. Die USA gaben unlängst zu verstehen, eine Rückkehr zur Autokratie der 1960er- und 1970er-Jahre nicht mittragen zu wollen.Bolsonaros großer Widersacher Lula verkündet selbstbewusst, er wolle die Präsidentschaft schon im ersten Wahlsieg erringen, wobei ihm ein breites Bündnis behilflich sein könnte. Die Nr. 2 seines Teams ist Geraldo Alckmin, konservativer Ex-Gouverneur von São Paulo. Auf die Seite des designierten Gewinners schlug sich zudem Henrique Meirelles, 2003 bis 2011, als Lula schon einmal regierte, Präsident der Zentralbank. Während die Finanzmärkte erfreut reagierten, schrillten bei Linken die Alarmglocken. Die Befürchtungen sind groß, dass es sich um erste Vorzeichen einer orthodoxen Finanzpolitik handelt.Allerdings hat der für sein Verhandlungsgeschick bekannte Lula kaum eine andere Wahl, als breite Allianzen zu knüpfen. Während es in Chile und Kolumbien linken Kandidaten gelang, mit Massenprotesten im Rücken Wahlen zu gewinnen, sieht das in Brasilien anders aus. Lulas Umfragehoch ist kein Ausdruck für die Stärke der Linken. Es honoriert sein Charisma und straft Bolsonaros katastrophale Bilanz. Viele Brasilianer blicken sehnsuchtsvoll auf die bisherige Präsidentschaft des Ex-Gewerkschafters zurück. Seinerzeit wurden ambitionierte Sozialprogramme aufgelegt, um die Armut spürbar zu verringern. Das gibt die Ökonomie derzeit nicht her, die Party ist vorbei und die Gesellschaft gespalten, was durch absehbare Kontroversen um die Legitimität des Wahlergebnisses so bleiben dürfte. Sollte Lula wieder regieren, wird er um Konzessionen an konservative Partner nicht herumkommen und in einem schwer zersplitterten Parlament um Mehrheiten kämpfen müssen.Das ist ein grundsätzliches Dilemma linker Regierungsverantwortung in Lateinamerika: Trotz progressiver Präsidenten liegt ein großer Teil der Macht weiterhin bei den alten Eliten. Die Ablehnung der neuen Verfassung in Chile hat linker Politik Grenzen aufgezeigt und einmal mehr die Kräfteverhältnisse deutlich gemacht. Nicht zuletzt in Peru gleitet der marxistische Staatschef Pedro Castillo von einer Krise in die nächste und kann so gut wie keines seiner Versprechen einlösen. Ein wirklicher Aufbruch ist am ehesten in Kolumbien zu erwarten. Gustavo Petro hat ein Ende des Extraktivismus angekündigt, die extensive Bewirtschaftung naturnaher Landschaften, und vor der UN-Generalversammlung den Kapitalismus scharf kritisiert. Es bleibt abzuwarten, inwieweit ihm eine radikale Zäsur in dem konservativen, von Gewalt und Bürgerkrieg geprägten Land gelingt.Keine großen SprüngeAuch Lula hat sich viel vorgenommen – jedoch mit einer höchst moderaten Rhetorik. Er verspricht nichts weniger als die „sozialökologische Transformation“ und sicherte sich dafür den Beistand der landesweit bekannten Umweltschützerin und Ex-Ministerin Marina Silva. Trotzdem führt für ihn kein Weg an der einflussreichen Agrarindustrie vorbei. Allzu große Sprünge verbieten sich schon deshalb, weil die linke Arbeiterpartei PT nicht mit einer Mehrheit im Parlament rechnen kann. Außerdem ist der Bolsonarismus gekommen, um zu bleiben. Die Herausforderungen sind enorm, doch viele Brasilianer sind sich sicher: Wenn es jemanden gibt, dem gerecht zu werden, dann Lula.