Nervös trippelt Marcelo* von einem Bein auf das andere. Er leidet unter Mangel an Bewegung, ist 23 Jahre alt, kurzgewachsen, hat kindliche Gesichtszüge. Auf dem rechten Arm findet sich ein Clowntattoo, auf dem linken ein brennendes Herz. Ein Diamant ist in seine kurzen Haare einrasiert, der typische Favela-Look. Nur seine Bekleidung passt nicht ganz ins Bild des coolen Jungen aus der Vorstadt: beige Hose, schlichtes weißes Shirt, Flip-Flops. Das ist die Einheitskleidung hier. Marcelo sitzt im Gefängnis.
* Alle Namen von der Redaktion geändert. Um die Sicherheit der Quellen zu garantieren, werden keine konkreten Orte genannt
Zwei Stunden zuvor, irgendwo am Rand einer brasilianischen Großstadt. Es nieselt, dichte graue Wolken kleben am Morgenhimmel. Schon von weitem sehe ich den weißen Klotz. Mit seinen hohen Wachtürmen und kahlen Mauern erinnert das Gefängnis an eine mittelalterliche Burg: abweisend, kalt, majestätisch. Vor dem Eingang warten Frauen in knallbunten Trainingsanzügen, Reisetasche in der einen, ein Kind an der anderen Hand. Es ist Besuchstag, der Andrang groß. Doch was in den brasilianischen Haftanstalten passiert, soll nicht nach außen dringen. Journalisten warten deshalb jahrelang auf eine Besuchserlaubnis – zumeist erfolglos. Über viele Umwege habe ich eine Genehmigung erhalten und bin als deutscher Missionar angemeldet. Vorsorglich habe ich mir eine Kette mit Kreuz um den Hals gehängt.
Endlich eingelassen, sind viele Stahltüren zu passieren, es geht vorbei an grimmig dreinschauenden Wachmännern mit Telefonzellenstatur. Ich blicke in etliche Gewehrläufe. Vieles bei dieser Exkursion wirkt abschreckend und willkürlich. Später wird mir gesagt, dass die vielen Kontrollen beabsichtigt seien, um Besucher einzuschüchtern, auch durch eine Untersuchung per Ganzkörperscanner.
Schließlich ist der „Käfig“ erreicht, die Schwelle zwischen Freiheit und Gefangenschaft. Vor den schweren Gitterstäben haben die Wärter das Sagen, dahinter die Gefangenen. Wie fast überall in Brasilien sind auch in dieser Anstalt die Häftlinge sich selbst überlassen. Die Wärter betreten die Blöcke so gut wie nie.
Krachend fällt hinter mir die Gittertür ins Schloss. Auf der anderen Seite schließt mir ein Mittvierziger in Gefängniskluft auf. Willkommen, ein schwerer Händedruck, eine Umarmung, und ich stehe auf einem von Tageslicht durchfluteten Fußballplatz. Kurz wird das Spiel gestoppt. Hunderte Männer blicken neugierig herüber, dann geht das Spiel weiter, und flinke Füße dribbeln wieder blitzschnell über den Steinboden, während hinter den Fußballtoren Wäsche getrocknet wird. Zweimal am Tag öffnen und schließen sich die Türen der Zellen automatisch. In der Regel können die Häftlinge ingesamt vier Stunden auf dem Hof oder in den Gängen verbringen, vier Stunden einen Hauch von Bewegungsfreiheit und Würde genießen.
Als ich eine Zelle betrete, schlägt mir der beißende Geruch von Urin, Schweiß und Rauch entgegen. Obwohl es an diesem Tag draußen eher kühl ist, lässt sich die dumpfe Hitze kaum ertragen. An den Wänden: Heiligenbilder, Wappen von Fußballteams, kunstvolle wie weniger ästhetische Zeichnungen. Ein kleiner Fernsehapparat hängt über dem Eingang – Modell 1980er Jahre. „Bruna, ich liebe dich“, hat jemand an eine Wand gekritzelt. In dieser Zelle ist eigentlich nur Platz für acht Gefangene, tatsächlich schlafen hier annähernd 50 Menschen in acht Betten, in selbstgebastelten Hängematten, die von der Decke hängen, oder auf dem „Strand“, wie der Zellenboden genannt wird.
Massaker im Knast
„Wir können uns kaum bewegen“, sagt Marcelo. Als sich später die Zellentür schließt, sehe ich, was er meint: Körper an Körper, dichtgedrängt. Es ist kaum ein Quadratmeter Platz für jeden Häftling. Wie eine dichte Masse aus nacktem Fleisch sitzen und liegen sie da.
Fast alle Haftanstalten sind hoffnungslos überfüllt, was kaum erstaunt, da derzeit über 600.000 Brasilianer hinter Gittern sitzen. Gemessen an der Bevölkerungszahl ist das die vierthöchste Häftlingsquote weltweit. Die Folge: In vielen Vollzugsanstalten sind heute fünfmal mehr Gefangene interniert, als es die Kapazität zulässt. Wasser zum Waschen gibt es häufig nur zwei oder drei Stunden am Tag.
Schnell bin ich umringt von einer Gruppe Gefangener. Ich blicke in 30 Augenpaare. Wenn man Gesichter der Armut und Verzweiflung beschreiben müsste, sähen sie wohl so aus. Fehlende Zähne, viele Narben, desolate Brillengestelle, ernste und traurige Blicke, die meisten sind schwarz und stammen aus den Randzonen der Metropolen. Auch Marcelo kommt von dort, wo die wenigsten eine Abwasserversorgung kennen, Schusswechsel alltäglich sind und viele junge Männer eher ein Gefängnis als ein Klassenzimmer von innen gesehen haben. Seit knapp zwei Jahren ist Marcelo hier. Sein Vater wurde erschossen. Die kleine Tochter hat er noch nie gesehen. Was hat er verbrochen? Darüber spricht man nicht. „Ich will so schnell wie möglich raus zu meiner Familie, etwas lernen und meiner Mutter helfen“, beteuert er.
Bis heute sitzen die meisten brasilianischen Gefangenen wegen Drogendelikten ein. Einer davon ist Wilson. Eigentlich müsste er schon längst wieder draußen sein, erzählt der hagere Mann, während er mit einem Rosenkranz aus Plastik herumspielt. „Ich habe seit Monaten nichts mehr von meinem Anwalt gehört. Deshalb ist Gott jetzt mein Anwalt.“ Wie Wilson ergeht es vielen. Tausende Gefangene sitzen förmlich auf der Wartebank. Status ungeklärt. Wilson will dann doch nicht allein Gott vertrauen, sondern mir eine Nachricht für seinen Anwalt mitgeben: „Kannst du einen Anruf für mich machen, Bruder?“ Gerichtsprozesse gegen Kleindealer wie Wilson dauern oft nur Minuten und gehen ohne Pflichtverteidiger vonstatten, häufig nur mit Polizisten als Zeugen. Menschenrechtsaktivisten sind überzeugt: Das ist so gewollt. Der „Krieg gegen die Drogen“ sei in diesem Land längst ein Feldzug gegen die Armen.
Was ihn am meisten belaste, frage ich Marcelo. „Das Essen ist schlecht, oft sogar verdorben.“ Und die gesundheitliche Fürsorge? „Wenn man zur Krankenstation geht, kommt man kränker zurück.“ Das Gefängnishospital, das außerhalb der Blöcke mit den Gefangenen liegt, darf ich nicht besuchen. Wegen eines Tuberkulose-Falls, wird mir erklärt. Viele Häftlinge müssten dringend behandelt werden, man sieht Wunden und Entzündungen, es wird gehustet und gestöhnt, es gibt Fälle von Krätze – die Reihe der Beschwerden ist lang.
Natürlich sind die unmenschlichen Bedingungen Nährboden für kriminelle Gangs, die seltene Güter zu bieten haben: Schutz, Zuneigung, Gemeinschaft, zusätzliche Nahrungsmittel. Oft haben die Gefangenen keine andere Wahl, als sich anzuschließen und damit auch eine „Schule des Verbrechens“ zu besuchen, so dass viele die Haftanstalten als potenzielle Wiederholungstäter verlassen.
Zu Jahresbeginn war das Schattenreich der Gefängnisse für kurze Zeit weltweit medial präsent. Über hundert Menschen starben, besser gesagt: wurden abgeschlachtet. Es gab abgehackte Köpfe, herausgerissene Herzen, gegrillte Leichen. Bilder wie in einem schlechten Splatterfilm. Die Regierung hatte die Schuldigen schnell benannt. Die Massaker wurden zur Folge barbarischer Konflikte zwischen verfeindeten Banden erklärt. Menschrechtsaktivisten prangerten hingegen an, dass der Staat für das Blutbad verantwortlich sei. Erst das System der Massenhaft habe solche Gräueltaten ermöglicht. Dem rechten Präsidenten Michel Temer fiel dazu nicht mehr ein, als zu verkünden: Wir brauchen mehr Gefängnisse, noch mehr Polizei, noch mehr Repression. Als wollte er vorsorglich den nächsten Gewaltausbruch bekannt geben.
Andererseits sorgen die Gangs in den Gefängnissen für Ordnung, sie sind das Rückgrat für die Selbstverwaltung der Gefangenen. Durch sie werden Reinigungsdienste eingeteilt, Zellen belegt, Post und Essen verteilt. Als Aufsicht funktionieren sie notfalls auch und können Gewalt verhindern. Und es fehlt nicht an Kreativität – an einen Besenstiel gebundene Wasserflaschen benutzen die Häftlinge als Gewichte, auf einem selbstgebauten Grill wird Essen aufgewärmt, ein Gefangener dreht sich aus einer Seite meines Notizblocks eine Zigarette.
In einem anderen Trakt sind Lesben, Schwule und Transsexuelle untergebracht. Gisele ist eine von vielen Transfrauen und seit einem Jahr in Haft. Sie schaut mir, an ihre Zellentür gelehnt, entgegen, und spielt mit einem Finger an ihrer schwarzen Lockenpracht. „Für uns ist die Situation extrem schwierig. Das Gefängnis ist nicht für uns gemacht.“
Sklavenarbeit für zwei Euro
Die Zellen für diese Gefangenen liegen außerhalb der Blöcke. Ein schmaler Gang verbindet zwei Löcher in Küchengröße. Nur durch einen schmalen Spalt im Mauerwerk fällt Licht in die Räume, ansonsten ist es stockdunkel. Menschliche Regungen bemerke ich erst, als sich mehrere Körper den Gitterstäben nähern. Einer davon gehört Bruno, der seit zwei Monaten einsitzt. Über den Kopf hat er sich eine Decke gezogen, seine Zähne klappern, seine Augen blinzeln und sind wegen der Finsternis fast geschlossen. Bruno zieht sein Shirt hoch. Auf dem Bauch klebt ein großes Pflaster. „Ich bin bei meiner Festnahme angeschossen worden. Meine Wunde hat sich entzündet, aber einen Arzt habe ich seit Tagen nicht mehr gesehen.“ Der LGBT-Trakt ist die letzte Station meines Rundgangs. Dort machen die Strafzellen ihrem Namen eine besonders traurige Ehre.
Kurz vor dem Ausgang darf ich noch einen Blick in einen Raum werfen, in dem rund 40 Gefangene sitzen und an Nähmaschinen arbeiten. Für eine Bekleidungsfirma werden kleine Stoffschleifen produziert. Pro Tag erhalten die Häftlinge umgerechnet zwei Euro. Sklavenarbeit nennen sie das.
Ich muss gehen. Schüssel klappern, wieder passiere ich Türen, Gitter, in Mauern verankerte Sperren aus Stahl. Dann bin ich draußen. Hinter mir liegt ein Stück Hölle.
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