Im Jahr eins nach der Wiedervereinigung hielt auch der Föderalismus in den deutschen Kinderzimmern Einzug: 1991 legte Ravensburger sein Brettspiel Deutschlandreise mit einem an die jüngsten welthistorischen Ereignisse angepassten Spielplan neu auf und trug bei dieser Gelegenheit auf der vereinigten Deutschlandkarte auch erstmals die Bundesländer ein. Volkspädagogisch ein durchaus sinnvoller Schritt, mussten westdeutsche Kinder und selbst manche mitspielenden Eltern ja auch erst einmal lernen, wo sich unerhörte Gebilde wie Sachsen-Vorpommern und Mecklenburg-Anhalt denn wohl annähernd befinden mochten. Und etwas über Deutschland lernen, das ließ sich mit der Deutschlandreise stets besonders gut.
Außer Fang den Hut gibt es bei Ravensburger keinen Titel, der so lange im Programm ist. Anders als Fang den Hut aber sollte das Reisespiel stets auch der Belehrung dienen. Allerdings warf ein Spiel, das im 20. Jahrhundert die Landkarte Deutschlands abbilden wollte, unweigerlich schwerwiegende Fragen auf, die sich Spielehersteller in Schweden oder Portugal nie stellten. Denn was und wo genau eigentlich war Deutschland?
Schon das erste Brettspiel, das der Ravensburger Buchhändler Otto Maier 1883 verlegte, war ein Reisespiel: Eine Reise um die Erde. Bis 1934 gab der Otto Maier Verlag, wie die Firma damals noch hieß, dann 28 verschiedene Reisespiele heraus, das war jeder sechste Titel im Sortiment. Meist handelte es sich um einen simplen Wettlauf über einen vorgeschriebenen Parcours von Spielfeldern – je nach Thema umdekoriert. Anfang der dreißiger Jahre aber griff der Verlag eine Spielidee des Nürnberger Kohlen- und Eisengroßhändlers Johann Wilhelm Stündt auf. Der war darauf verfallen, man könne durch das Ziehen von Kärtchen Startorte und Reiseziele zufällig festlegen und somit eine unendlich erscheinende Varianz von Spielverläufen und Reiserouten ermöglichen. Der Otto Maier Verlag machte nun eine Deutschlandkarte zum Spielfeld, auf der die großen Städte und annäherungsweise die bestehenden Verkehrswege eingezeichnet wurden. Neben Spielspaß sollten auch noch „verkehrsgeographische Kenntnisse“ vermittelt werden.
Die erste Auflage von 1934 zeigte das Deutsche Reich in den Grenzen des Versailler Vertrags. Die alten Reichsgrenzen waren zwar gestrichelt, doch Städte wie Straßburg, die damals nicht nur die Nationalsozialisten als nach wie vor deutsch ansahen, wurden zumindest als Reiseziele nicht angesteuert. Fragt man den Ravensburger-Unternehmensarchivar Ulrich Schludi, so findet der diese „relativ defensive Haltung typisch für den Verlag“. Dort saßen offenbar stets bedächtige Schwaben, denen mehr an einer haltbaren Auflage gelegen war, als an Revanchismus oder irgendwelchen Bekundungen von Nationalstolz. Schludi spricht von einem „extrem positivistischen Umgang“ mit bestehenden Grenzen, der ungewöhnlich sei für seine Zeit.
Was tun? Abwarten!
Schon 1938 war eine neue überarbeitete Auflage nötig geworden, die den kurz zuvor erfolgten Anschluss Österreichs auf der Karte nachvollzog. Das Sudetenland aber war in dieser Version noch nicht an das Deutsche Reich angeschlossen. Und das Territorium veränderte sich mit den Ereignissen des Folgejahres ja noch weiter. Im November 1939 schrieb der Otto Maier Verlag an das Leipziger Geographische Institut und die Arbeitsgemeinschaft der Verleger von Reiseführern und Landkarten im Bund Reichsdeutscher Buchhändler, um zu erfragen, wie mit den neuen Ostgrenzen umgegangen werden solle. Westpreußen und der später Wartheland genannte „Reichsgau Posen“ waren nach dem Polenfeldzug gerade annektiert worden. Die Antwort aus Leipzig: abwarten. Die neuen Grenzen seien noch nicht festgelegt und dürften bis auf Weiteres auch nicht veröffentlicht werden.
Was die Gestaltung eines neuen Spielplans angehe, so werde empfohlen, „einstweilen nur den absolut notwendigen Bedarf mit Farbe bzw. Grenzkolorit zu versehen und die Restauflage plano und unbeschnitten zu lagern, damit nach endgültiger Veröffentlichung die Grenzen nachträglich eingedruckt werden können.“ Ob diese etwas unkaufmännisch klingende Idee bei Ravensburger unmittelbar verworfen wurde, ist nicht mehr ganz zu rekonstruieren. Jedenfalls erschien bis Kriegsende tatsächlich keine an die Eroberungslage des Großdeutschen Reichs angepasste Neuausgabe der Deutschlandreise mehr.
Als die Produktion des Spiels in den Nachkriegsjahren wieder anlief, muss die Grenzziehung den Ravensburger Redakteuren wohl noch größeres Kopfzerbrechen bereitet haben: Die vom Westen nicht anerkannte DDR als eigenen Staat einzutragen, das dürfte den Territorialpositivisten nicht in den Sinn gekommen sein. Die Fakten der Teilung schlichtweg zu ignorieren, erschien aber wohl auch verkehrt. Und was war mit den Gebieten, die weiter noch im Osten lagen? Ungewiss ist, ob man diese Problematik nur umgehen, oder ein Stück Westorientierung nachvollziehen wollte – fest steht, dass eine Wiederauflage erst einmal nicht gewagt wurde. Stattdessen ließ man 1952 ein Spiel wieder aufleben, das zuletzt 1907 aufgelegt worden war – die Rheinreise. Weit entfernt von allen Ost- und Mitteldeutschen führte bei diesem Spiel die Fahrt von den Schweizer Flussquellen an Adenauers Bonn vorbei bis zur Mündung am holländischen Nordseestrand.
Zu einer Neuauflage der Deutschlandreise rang man sich in Ravensburg erst 1962 durch. Und bei der Kartengestaltung hielten sich die Spielemacher nun (wie sie es bis heute tun) streng an die Vorgaben der Kultusministerkonferenz. Die aber bestand auf den Grenzen von 1937. Auch Schulatlanten und die Wetterkarte der Tagesschau zeigten Deutschland noch so.
Bei Otto Maier fand man eine recht elegante Ravensburger Lösung, die am völkerrechtlichen Standpunkt der bundesdeutschen Politik nicht rührte, aber den Spielplan doch der normativen Kraft des Faktischen unterwarf. Man behalf sich mit dem Untertitel: „Wir fahren durch West- und Mitteldeutschland“. Zwar zeichnete man Stettin noch als deutsch ein (aus schierer Unwissenheit, wie einer der Redakteure später beteuerte), tatsächlich aber beschränkte sich das Spielgeschehen rein auf die Bundesrepublik und die DDR, zwischen denen dann aber auch nicht einmal eine gestrichelte Linie verlief. Am östlichen Rand wurde die Landkarte schlicht durch den Spielplanrand abgeschnitten. Dass Deutschland dort noch weitergehe, blieb bloße Andeutung. In den folgenden Druckauflagen wurde noch eine kleine Karte mit den Grenzen von 1937 am Spielplanrand ergänzt, die dort bis zum Warschauer Vertrag verblieb, der 1970 geschlossen wurde.
Nicht ohne Widerstand
Dessen Ergebnisse vollzog Ravensburger mit einer völligen Neugestaltung des Spielplans erst 1977 nach. Nun war die Grenze zwischen DDR und Bundesrepublik klar eingezeichnet, nun endete Deutschland an den Ufern von Oder und Neiße. Ohne Widerstand verlief das aber nicht. Im Unternehmensarchiv stapeln sich noch die Briefe von Kunden, viele Heimatvertriebene darunter, Funktionäre wie Privatleute, die den (wieder ganz positivistischen) Ravensburgern vorhielten, sie griffen einem Friedensvertrag vor.
Den gibt es mit dem Zwei-Plus-Vier-Vertrag nun seit 20 Jahren, und seither sind auch die Aufgaben der Ravensburger-Redakteure weniger heikel geworden. 1991 war die Einheit auf dem Spielbrett hergestellt. Seither ändert man im Verlag mal etwas die Spielregeln, fügt mal touristische Informationen hinzu, und gestaltet immer wieder die Verpackung neu. Die Deutschlandreise gilt dem Haus als Klassiker. Mehr als zwei Millionen Exemplare wurden im Lauf der Jahre verkauft. Zur Entwicklung von Absatzzahlen äußert man sich bei Ravensburger nicht. Nur das ist zu erfahren: Die Großereignisse der deutsch-deutschen Geschichte hätten sich auf die Verkaufszahlen nie wirklich ausgewirkt.
Niklas Hofmann ist Journalist und lebt in Berlin. Wenn er durch Deutschland reist, hofft er in der Regel weniger auf Glück beim Würfeln als auf den Fahrplan
Die Freitag-Sonderausgabe zu 20 Jahren Einheit. Mit Beiträgen von Sascha Anderson, Daniela Dahn, Samy Deluxe, Rainald Goetz, Jakob Hein, Jana Hensel, Tom Kummer, Jonathan Meese, Harry Rowohlt u.v.a Jetzt am Kiosk oder hier auf freitag.de
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.