Die Grandezza der Performance

Marina Abramović Mit "The Artist is Present" trat Marina Abramović im Museum of Modern Art auf - am 29. November startet ein gleichnamiger Dokumentarfilm über die Künstlerin

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Geistige und körperliche Kraftakte sind die Performances von Marina Abramović, hier bei "The Artist is Present" 2010 in New York
Geistige und körperliche Kraftakte sind die Performances von Marina Abramović, hier bei "The Artist is Present" 2010 in New York

Foto: Andrew H. Walker/Getty Images

"Am Anfang war der Körper. Der Körper? War am Anfang nicht das Wort (Logos), so wie es im Alten Testament steht? Oder, am Anfang war das Licht ( die Vision), wie das Neue Testament uns lehrt? War am Anfang nicht der Wille, oder, wie Goethe im Faust sagte: >>Ich schreibe getrost: Im Anfang war die Tat<<? Oder, wie Paul Klee in seiner schöpferischen Konfession (1920) notierte>> Im Anfang ist wohl die Tat, aber darüber liegt die Idee.<<..."

Mit diesen Worten leitete die Kunstkritikerin Bojana Pejić 1993 das Vorwort im ersten großen Kunstkatalog über die Performance-Künstlerin Marina Abramović ein (Edition Cantz). Sie umreißt damit sehr treffend das Motiv der Abramovićen Kunst: Vision, Idee, Wille und den Körper als Ort der Handlung. In diesem Verständnis sind, entgegen der dualistischen Theorie, Körper & Geist nicht voneinander getrennt, sondern sind zusammen in Bewegung, was nicht bedeuten muss, dass sie sich im Einklang befinden.

Zentraler Bestandteil ihrer Performance ist der Körper, ihr Körper, den sie als Objekt einsetzt, ihm dabei viel abverlangt, bis an die Grenzen des physisch und psychisch Erträglichen geht, auch für den Betrachter. Sie bezeichnet ihren Körper als Material, etwas was schon da ist und transformiert, weiterentwickelt, manipuliert, vollendet werden kann. Sie arbeitet mit ihm wie ein Bildhauer mit seinem Rohling, die Idee fest im Blick und mit einem, das Scheitern ausschließenden Willen, diese zu realisieren. Dazu gehört auch der Schmerz, wenn es sein muss, meist musste es wohl sein…

Nach ihrem Kunststudium beginnt sie Anfang der 70er Jahre als Solo-Performance-Künstlerin. Sie ist in Belgrad geboren und aufgewachsen, mit 28 Jahren verlässt sie die Stadt sowie ihre dominante Mutter und zieht nach Amsterdam. Von ihren Eltern, beide überzeugte Partisanen, General & Majorin im 2. WK, habe sie Disziplin gelernt und Energie mitbekommen, so sagt sie - von Gefühlen spricht sie nicht viel. Es ist eine Zeit des Aufbruchs und in Folge die Befreiung von Denkmustern, Dogmen über reaktionäre Ästhetik und Weiblichkeit, auch in der Kunst und nicht nur in kommunistischen Systemen.

Kontrollverlust als Kunstobjekt

"Ich bin das Objekt. Ich übernehme die volle Verantwortung während dieser Zeit", so ihr Statement anlässlich ihrer 1974 in Neapel aufgeführten Performance ´Rhythm 0´. Sie steht angezogen neben einem langen Tisch, auf dem 72 Gegenstände aufgebahrt sind: harmlose Dinge wie Farbe, Hut, Lippenstift, Parfüm, Blumen etc. aber auch Messer, Schere, Peitsche, Revolver & Munition. Die Gegenstände können von den Besuchern an ihr verwendet werden. Wie immer traut sich erst keiner, nachdem sich der Erste traut, trauen sich weitere. Was innerhalb der sechs Stunden spielerisch mit Bemalungen und Verkleidungen beginnt, steigert sich zum Horror: ihre Kleider werden ihr vom Leibe gerissen, sie wird geritzt und mit dem Messer verletzt, ihr Blut wird getrunken, jemand Anderes klebt ein Pflaster auf die Wunde, sie wird geschlagen, es gibt ein Handgemenge im Publikum - zum Schluss drückt ihr jemand die geladene Waffe in die Hand, andere Quellen behaupten, dass sie sogar mit der Waffe bedroht wurde.

Was bezweckte sie mit ihrer Aktion? Sie stellt sich passiv zur Verfügung, als Kunstobjekt und als Frau. Das Kunstpublikum, das zum Betrachten erzogen worden ist, wird animiert, aktiv tätig zu werden. Gleichzeitig wird es mit dem Anblick und dem Verhalten einer passiven Frau konfrontiert, das, nicht nur zu jener Zeit, für Viele eine Idealvorstellung der Weiblichkeit bedeutet. Darüber hinaus wird es mit der 'Freiheit vom Gewissen' konfrontiert, indem die Künstlerin jegliche Verantwortung für das Handeln des Publikums übernimmt, entgegen der Sartre´schen Definition, dass jeder für sein Handeln selbst verantwortlich ist. Freiheit kann in den Menschen die besten als auch die schlechtesten seiner Charakter- und Sozialisationseigenschaften hervorbringen, die Abgabe der Verantwortung ebenso.

In beiden Fällen hat die Menschheitsgeschichte seit jeher auch Ungeheuer kreiert, die selbst in 'freien, zivilisierten Gesellschaften´ existentiellen Nährboden & Lebensfreiraum finden. Anfang der 70er Jahre war das Stanford-Prison-Experiment ein vieldiskutiertes Projekt. Ob das Ergebnis die zündende Idee für das Experiment von Marina Abramović war, inwieweit die Reaktion des Publikums von ihr kalkuliert, forciert oder geprüft werden sollte, ist unklar. Aber das ist das Spannende an und in der Kunst, wenn nicht alles mundgerecht zurechtgeschnitten und erklärt wird , Spielraum für Phantasie, Vision, Ästhetik, Denken, Reflektion, Interpretation etc. geschaffen ist - auch für konträre Auseinandersetzungen.

Ihr persönliches Erlebnis schildert sie folgendermaßen: "…. Irgendwann eskalierte die Lage, die Leute verletzten mich, sie tranken mein Blut. Damals bekam ich meine ersten weißen Haare, und noch immer trage ich die Narben..." (Interview Zeit_2010)

"Es gab zwei Performances, die gefährlich waren, weil ich die Kontrolle nicht hatte: diese und «rest energy», in der mir mein damaliger Partner Ulay mit gespanntem Bogen einen Pfeil auf mein Herz richtete. So weit würde ich es heute nicht mehr kommen lassen." (Interview nzz folio 1/07)

Aufhebung der Geschlechteridentität

Den Künstler Ulay, Uwe Laysiepen, lernt sie in Amsterdam kennen, sie werden ein Paar. Ab 1976 beginnt die Kunst- und Beziehungssymbiose, beide sind am gleichen Tag im selben Jahr geboren. Aber es vereint sie mehr als Liebe und ein Geburtstdatum: die Besessenheit und der Wille bis ans Äußere aller Grenzen zu gehen. Sie ergänzen sich persönlich auch, er als ultimativer Konzeptkünstler, sie liefert den intuitiven, spontaneren, temperamentvolleren Part. Es folgen die "Relation Works", Arbeiten, die eine immer weitere Aufhebung, nicht Umkehrung (!) der Geschlechteridentität bzw. ihrer entsprechenden Rollen und Erwartungen beinhalten. Der Körper inklusive Geist und Seele ist weiterhin das Thema: Symbiose, Trennung, Konfrontation, Schmerz, Stille - das Schweigen gehört fast immer dazu, Worte werden so gut wie ausgeblendet. Es bedarf sie nur in dem Kontext zur Erklärung oder zum Brabbeln, beides möchten sie nicht praktizieren, sollen doch die Anderen, die Betrachter, die Kritiker reden, darüber nachdenken und schreiben. Das wird nicht serviert, nicht abgenommen, nicht aufgestülpt. Die Kunst soll sprechen, nicht die Künstler, nicht die Auftraggeber - eine Luxuszeit in einer Nische der Kunst.

Während der Performance "Capitalist Body/Communist Body" (1979) legen sich beide schlafen und schliefen durch, während die Gäste sich unterhalten, sie beobachten, essen und trinken durften. Diesmal wurde serviert; ein Tisch mit Lebensmitteln und Getränken aus dem Westen, ein weiterer mit dergleichen aus dem Süden/Osten. Die Auswahl des West-Tisches war natürlich opulenter und signifikantes Merkmal für den Überfluss und die Zugänglichkeit des Westens in den globalen Lebensmittelmarkt, umgekehrt war das für die dortigen Normalverbraucher nicht möglich. Trotz aller Integrationen und Kooperationen im Endeffekt heute immer noch nicht.

Das letzte Projekt von Marina Abramović & Ulay findet 1988 statt. Beziehungskrise, Sinnkrise etc., aber es wird nicht einfach aufgegeben. Sie nehmen sich eine Auszeit, die Arbeit und die Bewegung gehen weiter. Die Krise wird ein abschließendes Projekt, das einige Monate dauert: Sie gehen aus entgegengesetzten Richtungen auf einem langen Abschnitt der chinesischen Mauer aufeinander zu. Ulay beginnend aus der Wüste Gobi, Marina startet am Gelben Meer. Nach ca. zwei Monaten und etwa. 2.000 Kilometer Wanderung treffen sie sich, mit der gemeinsamen Erkenntnis, dass sie sich trennen. Wiedersehen werden sie sich erst 22 Jahre später.

Marina Abramović wird wieder Solo-Künstlerin. Es folgen eine Reihe Performances mit Schlangen, danach eine meditative Phase mit Kristall- und Quarz-Objekten. Auf der Biennale 1997, nachdem ihr Heimatland nach Kriegen und unzähligen Opfern auseinandergebrochen ist, schrubbt sie tagelang einen Berg voller Rinderknochen. Dabei singt sie Klagelieder aus den verschiedenen jugoslawischen Regionen. Es sind herzzer-reißende Aufzählungen über Verstorbene, die Klageweiber und Angehörige zu Beerdigungen anstimmen. Ein Brauch auf dem Balkan, der berührt und nicht nur für Nichtheimische schwer erträglich ist. Sie erhält den Goldenen Löwen.

Nach nahezu vier Jahrzehnten künstlerischer Tätigkeit, wird sie schließlich 2010 mit einer Retrospektive im MoMA geehrt: "The Artist is Present". Doch wie kann eine bewusst nicht reproduzierbare Kunstform erneut präsentiert werden? Fünf ihrer früheren Arbeiten, auch aus der Zeit mit Ulay, werden von Kunst- Studenten nachgestellt. Idee und Titel lieferte der MoMA-Chef-Kurator Klaus Biesenbach. Marina Abramović wäre nicht Marina Abramović, wenn sie es dabei beließe, sich gar in diesem Ruhm ausruhen würde. Als sie den Ausstellungstitel das erste Mal hört, überlegt sie, dass sie konsequenterweise tatsächlich präsent sein müsse, so entsteht die Idee zu ihrer gleichnamigen Performance im MoMA. Während der gesamten 12 wöchigen Ausstellungszeit, sechs Tage in der Woche, ca. acht Stunden täglich wird sie ohne Pause, ohne Essen, ohne Trinken, ohne Bewegung, ohne Sprechen auf einem Holzstuhl sitzen. In diesen Wochen wird sie kaum durchschlafen & mehrmals zum Trinken geweckt werden, um nicht zu dehydrieren. Insgesamt wird es ein nicht vorkalkulierbarer körperlicher Kraftakt, aber auch, wie sie sagt, die anstrengendste und gleichzeitig wichtigste Performance ihres Lebens.

Körperliche Kraftakte

Ihr gegenüber ist ein leerer Stuhl, auf dem Besucher Platz nehmen können. Was folgt ist unbeschreiblich: Stundenlang stehen Menschen Schlange, um sich auf diesen Stuhl zu setzen und Marina in die Augen zu schauen. Manche halten ihrem Blick nicht lange stand, gehen schnell wieder… andere fangen an zu weinen, ein Symptom, das in der Psychoanalyse nicht unbekannt ist. Das Gefühl gesehen, verstanden zu werden, ohne Worte, ohne Erklärung, ohne Berührung, ein Blick in die Seele vielleicht? Weitere versuchen, sie aus dem Konzept zu bringen, schneiden Grimassen etc., doch vergeblich. Schließlich nimmt Ulay ihr gegenüber Platz, er schafft es, ihre Beherrschung als auch das Tabu des Berührens zu brechen: sie streckt ihm ihre Hände entgegen - und diesmal sind es ihre Augen, aus denen Tränen entweichen.

Marina Abramović macht nicht nur Kunst, sie lebt und äußert sich durch Kunst. Sie zählt sich nicht zu den prominenten Weltverbesserern, die ihre oder eine fremdgesteuerte Message durch und mit den Medien verbreiten. Sie äußert sich öffentlich kaum zu politischen, sozialen oder feministischen Themen. Inhalt ihrer Arbeiten sind sie dennoch Auch wenn nicht immer in Gänze, erfasst, unberührt auf welche Weise und mit welcher Reaktion auch immer, lassen sie so gut wie keinen. Jean Giono hat mal gesagt: "Wir haben verlernt, die Augen auf etwas ruhen zu lassen. Deshalb erkennen wir so wenig."

In dem gleichnamigen Dokumentarfilm von Matthew Akers ist eine anschauliche Reportage über "The Artist is Present" als auch über Marina Abramović zu sehen. Es ist erstaunlich, dass eine Künstlerin, die seit 40 Jahren präsent ist, immer noch als Avantgarde im Kunstestablishment gehandelt wird. Sie lacht inzwischen darüber, dass sie trotz ihres Alters und der Vielzahl ihrer Arbeiten weiterhin als Vorreiterin bezeichnet wird. Gleichzeitig wird sie gern als ´Großmutter der Performance´ betitelt. Bald, am 30. November, wird sie 66, von Oma keine Spur, dafür umso mehr Grande Dame, die Italiener würden sagen: Bella Grandezza!

Matthew Akers, selbst Künstler, hat eine zwiespältige Einstellung zur Performance-Kunst und befindet sich damit in guter Gesellschaft unter Kunstkennern als auch Laien. ´Wieso ist das jetzt Kunst?´, lautet die ewig gleiche Frage, die polarisierende Antworten bei allen Beteiligten hervorruft. Übertragen ins profitorientierte Kunstmarketing lautet die nächste Frage: Wie kann Kunst, die nicht käuflich im Sinne von Besitzen ist, einen Wert haben? Unter Kunstinteressierten ist oft zu hören: ´Wie, das soll Kunst sein? Das kann ich auch!´ Richtig, das entspricht auch dem Beuys´schen Ausspruch, der, gern aus dem Zusammenhang gerissen, zitiert wird: "Jeder ist ein Künstler". Damit war aber weniger eine Qualitätsaussage verbunden als vielmehr die Feststellung, dass nahezu jedem Menschen der Zugang prinzipiell möglich ist. Und ich ergänze: soweit Grundlage, Kraft, Kreativität und Ausdauer vorhanden und gewollt sind und Vision, Idee und Wille zum Handeln führen…

Vielleicht hat gerade Akers´s Zwiespältigkeit dazu geführt, dass ihm ein wirklich guter und interessanter Porträtfilm gelungen ist, der auch dadurch besticht, dass er nicht glorifiziert und dem Zuschauer Raum für eigene Betrachtung lässt, ganz im Sinne der Kunstauffassung von Marina Abramović. Auf der Berlinale 2012 haben die Zuschauer entschieden: er erhielt den Publikumspreis für den ´Besten Dokumentarfilm´.

Filmstart: 29. November 2012

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Niko

Unsere Träume können wir erst dann verwirklichen, wenn wir uns entschließen, einmal daraus zu erwachen...Josephine Baker

Niko

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden