Homs, Hama, Damaskus und nun Tremseh. Die Berichte, die uns seit über einem Jahr aus Syrien erreichen, sind so grauenvoll wie uneindeutig. Mordet das Regime wahllos Zivilisten, geht es gezielt gegen Aufständische vor – oder beides? Die Abendnachrichten zeigen verwackelte Videos von Massakern und sprechen von Filmmaterial, das den Sendern vorliegt, aber zu entsetzlich sein soll, als dass es gezeigt werden könne. Während internationale Sanktionen vor allem an Russland scheitern, können die UN-Beobachter wiederum nur Protokolle schreiben und Tage später auf Spurensuche gehen – meist ohne eindeutige Erkenntnisse.
Mitten hineinbegeben in diesen Bürgerkrieg hat sich der französische Schriftsteller und Journalist Jonathan Littell, und was ihm dort begegnet ist, hat er in einer Intensität und Ausführlichkeit dokumentiert, wie sie bislang fehlte. Seine Aufzeichnungen, zwischen dem 16. Januar und 2. Februar in Homs entstanden und ausschnittsweise bereits in Le Monde und der Zeit publiziert, lassen sich jetzt in den gesammelten Notizen aus Homs nachlesen. Ursprünglich wollte der Hanser-Verlag sie Ende August veröffentlichen, nun wurde die E-Book-Version „aufgrund der anhaltend dramatischen Situation in Syrien“ vorgezogen.
Chronik des Grauens
Die 15 Tage, die Littell mit einem Fotografen, illegal über den Libanon eingeschleust und unter Decknamen, in Homs verbracht und tagebuchartig aufgezeichnet hat, offenbaren sich als eine Chronik des Grauens: Kinder, denen auf offener Straße die Kehlen durchtrennt werden; Geheimpolizisten, die Schwerverletzte mit Stromkabeln auspeitschen; Todesschwadronen, die marodierend durch die Nacht ziehen.
Gesellschaften auf dem Weg ihrer ethischen Entgrenzung zu porträtieren, ist gewissermaßen die Domäne Jonathan Littells. Hatte er bereits den Protagonisten seines halbdokumentarischen Romanepos’ Die Wohlgesinnten, SS-Offizier Maximilian Aue, durch einen schier endlosen Ozean aus Blut waten lassen und später Kriegsreportagen aus Tschetschenien und Georgien verfasst, begibt er sich nun also in die syrischen Bloodlands. Doch im Gegensatz zu seinem umstrittenen Roman Die Wohlgesinnten, der vielfach als intellektueller Gewaltporno kritisiert wurde, hält Littell sich in den Notizen aus Homs weitestgehend an die nüchterne Beschreibung des Erlebten. Bisweilen lässt er zwar literarische Versatzstücke und persönliche Gedanken einfließen, beschränkt sich in einer minimalistischen, manchmal fast telegrafischen Sprache aber weitestgehend aufs Benennen und Dokumentieren. Keine Leichen, die mikroskopisch seziert, keine Gräuel, die stilvoll ästhetisiert werden. Jedoch ist es gerade dieses protokollarische Gleichmaß des Schreckens, das seinen Bericht so ungemein beklemmend macht.
Überhaupt ist es eine eminent klaustrophobische Atmosphäre, in der man Littell und den syrischen Rebellen durch ein Labyrinth aus verwinkelten Gassen und engen Häuserschluchten folgt. Teilweise nur 100 Meter von den Straßensperren der Armee entfernt, führt seine Recherche in notdürftig eingerichtete Lazarette, provisorische Gefechtsstände oder konspirative Internetcafés. Und das nicht selten unter den allgegenwärtigen Augen von Assads Scharfschützen, die insbesondere nach Einbruch der Dunkelheit auf jede menschliche Regung mit einer Kugel antworten.
Einschusslöcher und Louis-Seize-Mobiliar
Die Millionenstadt Homs offenbart sich dabei als ungleiches Nebeneinander aus den Überresten öffentlicher Ordnung und anarchischem Ausnahmezustand. Einerseits gibt es noch so etwas wie ein normales Leben: Barbiere öffnen weiter ihre Läden, Händler verkaufen am Straßenrand Falafel und Sfihas. Andererseits zeugt nicht nur das tagtägliche Morden von einem Staat im rasanten Zerfall. Auch die zivile Infrastruktur erodiert zusehends: Komplette Viertel müssen nahezu ohne Heizöl auskommen, Banken geben ganze Bündel an stümperhaft gefälschten Lira aus. In dieser Ambivalenz kommt es mitunter zu surrealen Szenen, etwa wenn Littell Soldaten der Freien Syrischen Armee (FSA) in eine verlassene Wohnung folgt, wo sie durch die Einschusslöcher im Mauerwerk regimetreue Truppen unter Feuer nehmen – umgeben von polierten Möbeln im prunkvollen Louis-Seize-Stil.
Die eindringliche Präsenz der Aufzeichnungen resultiert nicht zuletzt daraus, dass Litell seine unmittelbaren Notizen nachträglich nur behutsam redigiert und mit einigen Erklärungen versehen hat. Dementsprechend verzichtet das Buch auf eine detaillierte Erläuterung der interkonfessionellen und geopolitischen Grundierung des Konflikts. Vieles wird jedoch zwischen den Zeilen mehr als deutlich. Warum etwa Russland so innig an der Seite Assads steht, erklärt sich ohne politstrategische Analyse, wenn Littell minutiös die eingesetzten Gewehre, Granatwerfer und Panzer auflistet: fast alles russische Wertarbeit.
Wie objektiv ist Littell?
Sicher: Ob der chaotischen Rechercheumstände stellt sich die Frage nach der Objektivität des Berichts. Littell sieht buchstäblich nur eine Seite des Konflikts und kann zudem den Wahrheitsgehalt vieler Quellen nicht definitiv überprüfen. Doch er arbeitet diesem Umstand entgegen: Immer wieder merkt er an, wenn Zeugenaussagen unplausibel klingen, kann manche sogar dezidiert widerlegen. Und vor allem beleuchtet er auch die Schattenseiten der Rebellion. Denn obschon Littell zweifellos als deren Anwalt auftritt, verhehlt er nicht, dass sich unter den Aufständischen Al-Quaida-Verehrer und herrschsüchtige Militärs befinden; ja, dass es auch einige gibt, die die Ausrufung eines globalen Dschihads und einen Angriff auf Israel fordern.
Die Notizen aus Homs machen auch deshalb so fassungslos, weil man aus heutiger Perspektive weiß, dass all dies erst die Ouvertüre zu einem noch blutigeren Akt der Eskalation war. Bereits einen Tag nach Littells Abreise nahmen Assads Truppen die Stadt in einer Großoffensive unter Beschuss. Über 200 Menschen wurden allein dabei getötet. Das jüngste Massaker im Dorf Tremseh, das mindestens ebenso viel Opfer forderte, dürfte nur der nächste vorläufige Höhepunkt in der Ausweitung der syrischen Kampfzone gewesen sein.
Was also tun, um das Morden zu stoppen? Anders als seiner Zeit Bernard-Henri Lévy in seinen Libyen-Reportagen bleibt Littell uneindeutig. Zwar beschreibt er nachdrücklich, wie Hunderte bei den Freitagsdemonstrationen „No-Fly-Zone“ skandieren und Kommandeure der FSA ein Eingreifen der Nato fordern, jedoch ohne sich dem anzuschließen. Ähnlich ambivalent äußerte er sich jüngst im Spiegel, wo er zwar keine westliche Intervention fordern wollte, nur um wenige Zeilen später doch für „gezielte Luftschläge“ zu plädieren.
Die Notizen aus Homs geben eine außergewöhnliche Innenansicht des syrischen Bürgerkriegs und lassen kaum Zweifel daran, dass das Assad-Regime zum blutigen Endspiel gegen die eigene Bevölkerung bereit ist. Allein wie sich dies noch abwenden ließe, kann auch Littell nicht beantworten.
Notizen aus Homs Jonathan Littell Hanser 2012, 240 S., 14,99 €
Nils Markwardt schrieb zuletzt über Wolfgang Fritz Haugs Hightech-Kapitalismus in der Großen Krise
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