Der Freitag: Lieber Herr Engelmann, von 1972 bis 1973 saßen sie im Stasi-Gefängnis. Wie kam es dazu?
Peter Engelmann: Das ist eine lange Geschichte. Ich bin zunächst in Rumänien grundlos verhaftet und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden. Ich hatte mich im Grenzgebiet aufgehalten, dort gab es jedoch keinerlei Verbotshinweise. Dennoch war man der Meinung, dass ich flüchten wollte. Nach der Gefängniszeit in Rumänien bin ich dann nach Ostberlin geflogen worden. Anfang der 70'er Jahre gab es noch kein Rechtshilfeabkommen zwischen Rumänien und der DDR. Deswegen verhaftete man mich ob des Verdachts auf staatsfeindliche Hetze dort einfach nochmal. Wie ich heute aus den Unterlagen weiß, stand ich jedoch schon länger unter Beobachtung. Das war dann ein Anlass mich abzugreifen.
Standen sie wegen ihrer philosophischen Tätigkeit unter Beobachtung?
Da gab es viele Gründe, das begann bereits am Anfang des Studiums. Ich hatte mich an der Humboldt-Universität beispielsweise geweigert den Begrüßungsdienst zu machen. Der bestand darin, westliche Besucher als netter Student zu empfangen und danach der Stasi Bericht zu erstatten. Es hat dann zwar nie den großen Krach gegeben, aber es gab das ganze hin und her eines nicht wirklich angepassten Lebens. Dann erfolgte schließlich der Zugriff. Daraufhin kam ich in Untersuchungshaft in der Magdalenenstraße. Dort war das eigentliche Zentralgefängnis der Stasi, nicht in Hohen-Schönhausen. Es folgten monatelange Verhöre. Dann kam mein Anwalt Wolfgang Vogel ins Spiel, der vor allem für Freikauf- und Austauschangelegenheiten zuständig war.
Von dem später bekannt wurde, dass er selbst für die Stasi arbeitete.
Ja, das konnte man damals schon erahnen. Die Stasi-Offiziere standen verstohlen stramm vor ihm, das war beeindruckend. Er drang darauf, dass ich sage, dass ich über Rumänien nach Jugoslawien wollte, was nicht der Fall war. Aber ich sollte das machen, damit er aktiv werden könne. Irgendwann haben wir es auch so gemacht. Ich bin dann wegen versuchter „Republikflucht“ verurteilt worden, so wie er es wollte. Nach ein paar Monaten konnte ich dann ausreisen.
Konnten Sie nach ihrer Ausreise 1973 noch Kontakt zu kritischen Intellektuellen in der DDR halten?
Nein, ich hatte Einreiseverbot. Ich bin in eine völlig neue Welt geworfen worden. Ich kannte niemanden, hatte keine Familie. Dann habe ich mir gesagt, ich mache das nicht wie andere Dissidenten und setze mich nach Westberlin, um über die Mauer zu schauen und den Verlust zu beweinen. Ich bin rausgegangen, nach Amerika, Kanada, England, Frankreich.
Wie haben sie den Mauerfall erlebt?
Mit Mitte zwanzig stand ich vor dem Nichts, es war eine Zeit ohne Heimat. Aber man lernt halt damit zu leben. Und dann kommt irgendwann der Mauerfall. Das war es eines der überwältigsten Ereignisse meines Lebens. Ich kann mich an den Tag erinnern als sei es gestern gewesen. Ich war in Wien. Als ich am Morgen den Fernseher einschaltete, wurde eine Sondersendung angekündigt. Ich war überzeugt, dass etwas schreckliches passiert ist, dass Truppen losgeschickt wurden. Dass es umgekehrt sein sollte, konnte ich mir einfach nicht vorstellen. Umso bewegender war das, was ich dann zu sehen bekam.
Wie war es wieder nach Berlin zurückzukommen?
Als ich nach dem Mauerfall meine Freunde wiedersah, war das eine merkwürdige Situation. Warum war ich im Gefängnis, die anderen aus meinem Kreis aber nicht? Ich habe immer versucht zu vermitteln, dass das eine Temperamentssache war. Ich wollte ja nicht, dass die, die diesen Weg nicht gegangen sind, sich schlecht fühlen. Der eine war eben mehr angepasst, der andere weniger. Was jedoch sicher nicht stimmt, ist, dass man in der DDR unter so einem Druck gelebt hätte, dass man nicht hätte anständig bleiben können. Das ist eines jener großen Märchen, die einem heute erzählt werden. Niemand hat mich in meiner Zeit in der DDR so unter Druck gesetzt, dass ich meine Freunde als IM hätte verraten müssen. Das ist einfach eine Lüge mit der Leute sich ihre Geschichte schön reden.
Sie haben Jacques Derrida verlegt und auch persönlich gut gekannt. Im Dezember 1981 reiste Derrida nach Prag, um sich im privaten Rahmen mit tschechoslowakischen Dissidenten zu treffen. Dort wurden ihm Drogen untergeschoben und er kam für kurze Zeit in Haft. In Erinnerung an die entwürdigenden Prozeduren, die er damals erlitt, schrieb er später: „Die Haft in Prag war im Grunde die Reise meines Lebens, die einzige, die diesen Namen verdient.“ Haben sie über diese Erfahrung gesprochen?
Diese Nacht im Gefängnis hat ihn wirklich stark beeindruckt. Das war auch eines unserer Themen, weil wir diese Erfahrung teilten. Wir haben allerdings noch eine andere Erfahrung geteilt. Wir sind beide Migranten, die in der gleichen Sprache geblieben sind. Er kam von Algerien nach Frankreich, ich von Ost- nach Westdeutschland. Ich habe sein Thema verstanden und er hat verstanden, dass ich es verstehe. Nicht umsonst hat der Passagen-Verlag bis heute 43 Bücher von ihm publiziert. Und immerhin hätte er jede Möglichkeit gehabt mit größeren Verlagen zu arbeiten.
Stimmt es, dass vor allem Jürgen Habermas und sein Umfeld zunächst verhindert haben, dass Derrida hierzulande im größeren Maßstab verlegt wird, da diese ihr Kritikmonopol gefährdet sahen.
Überall bekam Derrida damals große Aufmerksamkeit, außer in Deutschland. Derrida hatte zwar zwei Bücher bei Suhrkamp veröffentlicht, dann kam jedoch erst einmal nichts mehr. Das musste ja einen Grund haben. Ich konnte über Habermas' entsprechende Rolle zunächst nur spekulieren. Damalige Suhrkamp-Lektoren haben mir diese später jedoch bestätigt.
In den 80'er Jahren gab es auch in der DDR eine Auseinandersetzung mit der Dekonstruktion. Derridas Schriften kursierten beispielsweise im Umkreis des Osterberliner Centre Culturel Français. Haben sie seiner Zeit oder im Nachhinein etwas von dieser informellen Rezeption mitbekommen?
Nein, das ist mir nicht begegnet. Kurz nach der Wende habe ich in der Akademie der Wissenschaften Vorträge gehalten, dort waren aber nur die Vertreter der alten Garde. Die fanden das nur exotisch, was ich da mache. Und auch als Verlag hatten wir zunächst die Erfahrung gemacht, dass wir mit unseren Büchern im Osten schlecht ankommen. Die philosophische Nachholarbeit bezog sich hier eher auf die Kritische Theorie der Frankfurter Schule.
Die Dekonstruktion wird bis heute zumeist als semiotische oder künstlerisch-ästhetische Theorie interpretiert. Sie unterstreichen hingegen auch ihre politische Dimension.
Die Dekonstruktion war immer auch politisch motiviert. Sie ist zunächst vor allem eine Theorie der Bedeutungskonstitution, die der landläufigen Vorstellung widerspricht, dass die Sprache etwas abbildet, das ihr voraus liegt. Sowohl auf der Ebene der Signifikate als auch auf der der Signifikanten gibt es keine festen Einheiten. Und das lässt sich auch politisch lesen. Die Idee von einer im Akt stattfindenden Bedeutungskonstitution hat die politische Konsequenz, dass es nichts voraus liegendes gibt, was autoritär auftreten kann. Die Dekonstruktion wendet sich somit gegen jeden religiös, nationalistisch oder rassistisch motivierten Ansatz, der eine Form absoluter Gewissheit beansprucht.
Sie schreiben, dass die Dekonstruktion weniger als eine Form der Kritik, denn als Subversion zu begreifen sei. Was meint das?
Über die Dekonstruktion zu schreiben, meint die abendländische Diskursivität und ihre Begriffe in Frage zu stellen. Kritik ist jedoch ein Begriff der „Metaphysik“, so nannte Derrida den abendländischen Diskurs. Sie setzt einen Standpunkt oder ein Motiv voraus, in dessen Namen etwas kritisiert wird. Und damit hat man schon wieder eine Verankerung, die man nicht will. Man muss an dieser Stelle hinzufügen: Wenn Derrida beispielsweise den Begriff des Autors kritisiert, heißt das nicht, dass er nicht sieht, dass dieser in der textuellen Arbeit tätig ist. Die Dekonstruktion deckt jedoch neben dieser weitere Sinnebenen auf, die nicht vom Autor gesteuert werden. Der Begriff der Subversion hat den Vorteil, dass er sich eher auf diese Form des Abarbeitens am Text bezieht. Ein Abarbeiten, bei dem man im Voraus nicht weiß, wo die Reise hingeht.
Nahm der Ostblock in Derridas politischem Denken eine besondere Rolle ein? Durch seine Frau Marguerite hatte er ja immerhin auch familiäre Verbindungen in die damalige Tschechoslowakei.
Er hat überall versucht Dissidenten zu unterstützen, auch mit Besuchen in Russland und der ČSSR. Aber er hat ebenfalls Mandela unterstützt. Das waren seine zivilgesellschaftlichen Engagements. Die hat er von seiner philosophischen Arbeit zwar nicht getrennt, sie aber auch nicht unter Argumentationszwang gestellt.
Der Neoliberalismus treibt die soziale Atomisierung voran, kollektive Emanzipationsprojekte scheinen immer schwieriger. Auch deshalb haben Philosophen wie Slavoj Žižek oder Alain Badiou, die sie beide ebenfalls verlegen, gerade bei jüngeren Lesern Konjunktur. Denn diese akzentuieren eben nicht das Individuelle und Partikulare, sondern das Allgemeine und Universelle.
Ja, diese herrschende Zusammenhanglosigkeit ist eine Schwierigkeit für junge gesellschaftskritische Leser. Aber an dieser Stelle kann man auch auf ein Missverständnis hinweisen. Derrida hat ja nicht gesagt, dass es keine emanzipatorischen Projekte oder keinen Zusammenhang gibt. Er plädiert nur dafür, dass wir uns bewusst sind, dass wir immer nur eine bestimmte Möglichkeit setzen. Damit zivilisieren wir uns und verhindern, dass wir uns selbst absolut sehen und in totalitäre Praktiken verfallen. Jemand, der emanzipatorische Ziele verfolgt, würde natürlich nie sagen, dass er einen Massenmord begeht. Aber darum geht es nicht. Es geht darum, dass bestimmte Denkstrukturen diese Gefahr bergen. Derrida wollte also keine emanzipatorischen Projekte desavouieren, sondern nur einen bestimmten Absolutheitsanspruch sabotieren.
Alain Badiou schlägt mit seiner Idee von der „Treue zum Ereignis“ einen anderen Weg ein. Demnach könne wirkliche Veränderung nur dann geschehen, wenn man einem unvorhergesehen Ereignis beisteht – ohne zunächst zu wissen, wo genau es hinführt. In gewisser Hinsicht impliziert das auch die Maßgabe: Wo gehobelt wird, da fallen Späne.
Ich habe darüber mit Badiou vor kurzem im Berliner HAU diskutiert. Da hatte ich das Publikum gegen mich. Bis ich dann mal gesagt habe: Was für einen Schwachsinn beklatschen sie hier eigentlich? „Wo gehobelt wird, da fallen Späne“? Ich schätze Badiou sehr. Er ist ungemein reflektierter Denker, der eine kohärente Theorie hat. Diesen spezifischen Aspekt seines Denkens finde ich jedoch unerträglich. Das sage ich ihm aber auch. Wir können damit leben und diskutieren gerne miteinander. Zumal ich die Bedeutung seiner Position sehe, deshalb ist sie ja auch in unserem Verlagsprogramm.
Derridas politische Schriften wurden seit je her unter den Verdacht der praktischen Unbrauchbarkeit gestellt. Peter Sloterdijk hat in Bezug auf Derridas Konzept der „unbedingten Gastfreundschaft“ beispielsweise gesagt: „Das klingt recht heiter, ja, sonntäglich freundlich, funktioniert aber nur, wenn ganz wenige kommen.“ Ist da etwas dran?
So etwas sagt der Pragmatiker. Es entspricht auch unserer gegenwärtigen Erfahrung, dass die Zahl der Flüchtlinge zunimmt und wir unsere Türen immer mehr verschließen. Aber wenn Derrida diese Idee formuliert, ist er natürlich nicht naiv. Er weiß um die Grenzen politischer Praxis. Er setzt diesen aber ein „trotzdem“ entgegen. Seine Schriften sind eben unbefriedigend wenn man sich nach Sicherheiten sehnt.
Mut welchen totalisierenden Tendenzen sind wir heute konfrontiert?
Die Aushebelung der Bürgerrechte im Namen der Terrorbekämpfung ist sicher eines unser größten Probleme.Diese Form der Ermächtigung des Staats gegenüber seinen Bürgern halte ich für ganz fatal. Für jemanden, der in der DDR aufgewachsen ist, ist das ein Aha-Erlebnis. Aber auch der aggressive Neo-Imperialismus Putins oder die religiöse Intoleranz des Kalaschnikow-Islamismus sind Gefahren. In unserer Reaktion müssen wir aber darauf achten, dass wir nicht in die gleichen Mechanismen verfallen.
Und das Diktat der Ökonomie?
Die gesellschaftlich unkontrollierte Macht von transnationalen Finanzinstitutionen ist natürlich ebenfalls eine gesellschaftliche Gefahr. Wie ist es möglich, dass eine Industrie ganze Länder und Staatsbudgets in die Pflicht nimmt, um ihre Fehler zu bezahlen? Da ist ja etwas äußerst schief gelaufen.
Während des Kalten Kriegs bestand ein Vorteil der Dekonstruktion auch darin, dass sie sich der binären Überdeterminierung der herrschenden Politik entzog. Heute bewegen sich die politischen Diskurse wieder verstärkt im Kontext eines Entweder-Oder: Der Westen oder Russland, Okzident oder Orient. Könnte dekonstruktivistisches Denken hier einen Ausweg aufzeigen?
Dekonstruktion meint nicht Neutralität, meint nicht dass alle Seiten ein bisschen recht haben. Nehmen wir das Beispiel Russlands. Die Nachkriegsordnung Europas durch die Annexion fremden Territoriums zu brechen und damit die Büchse der Pandora zu öffnen, ist unakzeptabel. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Derrida dies ähnlich gesehen hätte. Rechtsstaatlichkeit war ein hohes Gut für ihn. Nicht zuletzt weil ihm diese Willkürlichkeit, die er in jener Gefängnisnacht erlebte hatte, wirklich zu denken gab.
Dr. Peter Engelmann, 1947 in Berlin geboren, studierte an der Humboldt-Universität Philosophie. 1972 wird er zu zwei Jahren politischer Haft verurteilt. Dank der erfolgreichen Intervention der Bundesregierung kann er im Juli 1973 in die BRD ausreisen. Nach akademischer Arbeit in Frankreich, Großbritannien und den USA gründete er 1987 in Wien den Passagen-Verlag, der sich vor allem auf französische Gegenwartsphilosophie konzentriert. Zuletzt erschien von Peter Engelmann: Dekonstruktion - Jacques Derridas semiotische Wende der Philosophie Passagen-Verlag 2013, 248 S., 21,50 €
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