Altgier und Partys

Theorie Die „Zeitschrift für Ideengeschichte“ kombiniert akademischen Diskurs mit trockenem Humor. Nun feiert sie ihr zehnjähriges Jubiläum
Ausgabe 11/2016
Frei nach Nietzsche widmet sich die Jubiläumsausgabe der „Altgier“
Frei nach Nietzsche widmet sich die Jubiläumsausgabe der „Altgier“

Foto: Leemage/Imago

Nichts ist gefährlicher als eine Idee, wenn man nur eine hat“, notierte einst der Philosoph Émile Chartier. Man könnte aber auch sagen: Nichts ist gefährlicher als eine Idee, wenn man nicht weiß, woher sie kommt. Denn kulturelle Konstrukte wirken zwar bisweilen neu, sind aber oft Aufgüsse des Alten. Um Erstere zu verstehen, müssen deshalb stets die Sedimente des Sozialen freigelegt werden.

Dafür eignet sich die Lektüre der Zeitschrift für Ideengeschichte. Das Quartalsheft, das mit der aktuellen Ausgabe sein zehnjähriges Jubiläum feiert, gehört zu den wenigen Publikationen, die zwar einen wissenschaftlichen Anspruch hegen, sich aber nicht mit der intellektuellen Selbstkasernierung in Universitätsbibliotheken begnügen. Vielmehr verbindet das Magazin sonst so Gegensätzliches: akademische Akkuratesse mit schillernden Schreibstilen, archivarische Maulwurfsmentalität mit pointierter Gegenwartsdiagnostik.

Gleichwohl verfügt die Zeitschrift, deren Beirat so prominente Namen wie Jan Philipp Reemtsma, Quentin Skinner oder Barbara M. Stafford zieren, über eine vierfache Verankerung im Wissenschaftsbetrieb. Die Herausgeberschaft ist auf das Deutsche Literaturarchiv in Marbach, die Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel, die Klassik-Stiftung Weimar und das im Grunewald ansässige Wissenschaftskolleg zu Berlin verteilt. Die Beiträge zeichnen sich trotzdem in zuverlässiger Regelmäßigkeit dadurch aus, dass sie nicht nur verschüttete Ideensplitter ausgraben, sondern diese im Lichte der Gegen-wart auch für eine größere Leserschaft aufpolieren. Es scheint denn auch passend, dass sich die Jubiläumsausgabe der „Altgier“ widmet.

Unter diesem von Nietzsche geprägtem Begriff versammelt das Dossier einerseits kluge Beiträge zu Phänomenen wie Vintage, Retro und Antiquarismus. Andererseits erscheint Altgier auf anderer Ebene aber auch als eine Art programmatischer Leitbegriff. Denn erst der Blick in die Vergangenheit macht das Jetzt verständlich. So heißt es im Vorwort: „Im Namen von Ideen und Religionen werden Menschen erniedrigt und getötet, und immer häufiger sehen wir Zeugnisse der Kultur zu Zielen destruktiver Akte werden. (…) Angesichts dieser Ausweitung der Kampf-zone wächst der Ideengeschichte unverhoffte Aktualität zu.“

Doch nimmt die Zeitschrift auch die Popkultur in den Blick. Und gerade dabei zeigt sie etwas, das man in ähnlichen Publikationen sonst mit der Lupe sucht: Humor. Deutlich wurde das in der vorletzten Ausgabe zum Thema „Die Party“. Hier findet sich nicht nur ein schöner Beitrag Philipp Felschs, der der Bedeutung des kalifornischen Trinkverhaltens für die Theorie Niklas Luhmanns nachspürt, oder ein luzider Essay Friedrich Wilhelm Grafs über eine legendäre Kostümparty bei Paul Tillich (Theodor W. Adorno, dessen damaliger Assistent, kam passenderweise als Napoleon), es wurden auch 24 Schnappschüsse aus dem Fundus Siegfried Unselds abgedruckt.

Und auf manchen dieser Partyfotos aus dem Suhrkamp-Kosmos verdichten sich Grundlinien der deutschen Geistesgeschichte. Etwa auf jenem, wo Niklas Luhmann und Jürgen Habermas mit gebührendem Abstand auf einem Sofa sitzen und stoisch über ein Blumenbouquet blicken. Ein besseres Sinnbild für die alte Konkurrenz zwischen Diskursethik und Systemtheorie kann man sich kaum vorstellen. Möge die Zeitschrift für Ideengeschichte also mindestens noch zehn weitere Jahre erscheinen.

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