Apocalypse Anytime

Mit Wucht Karl Marlantes, ein Veteran des Vietnamkrieges, hat einen historischen Kriegsroman geschrieben, der erschreckend gegenwärtig ist

Bis heute ist der Vietnamkrieg eine offene Wunde im kollektiven Gedächtnis Amerikas. In den Debatten über Irak und Afghanistan wird er oft nur „the V-word“ genannt, als handle es sich um einen Dämon, dessen Namen man nicht aussprechen darf. Über 60.000 US-Veteranen haben sich mittlerweile das Leben genommen – mehr Soldaten, als damals im Krieg gefallen sind. Doch nicht nur die Toten werfen einen langen Schatten auf Vietnam, auch die Pop- und Hochkultur wird nicht müde, an das Leid und die Lügen zwischen Hanoi und Saigon zu erinnern. Die unzähligen Protestsongs, Filme wie Full Metal Jacket, Platoon oder Apocalypse Now und die Texte Tim O’Briens und Denis Johnsons bilden einen Kanon gegen das Vergessen. In diesen reiht sich mit Matterhorn nun ein weiterer fulminanter Roman ein, der in quälender Präzision und geradezu hyperrealistischem Duktus davon erzählt, welches Grauen Menschen zu ertragen vermögen. Bevor man über diesen Roman sprechen kann, muss man jedoch ein paar Dinge über seinen Autor wissen.

Orden lassen sich wegpacken

Karl Marlantes, heute 67, studierte in Yale und Oxford, bevor er sich 1968 als 23-jähriger Zugführer der US Marines freiwillig nach Vietnam meldete. Dreizehn Monate später kam er ebenso hoch dekoriert wie gebrochen zurück. Gezeichnet vom Posttraumatischen Stresssyndrom ließ er seine zahlreichen Auszeichnungen im Keller verschwinden, um das erlebte Grauen fortan zu beschweigen. Doch Orden lassen sich wegpacken, Erinnerungen nicht. Bald suchten Marlantes Flashbacks und unkontrollierte Wutausbrüche heim. Vietnam wollte nicht vergehen. Er entschied sich für eine Therapie, in deren Zuge er 1977 das Schreiben begann. Nach über 30 Jahren liegt das fast 700-seitige Ergebnis vor: Matterhorn. Ein autobiografisch inspirierter Vietnam-Roman, der amerikanische Kritiker bei seiner Veröffentlichung 2010 begeisterte und nun in deutscher Übersetzung erscheint.

Dabei ist Matterhorn zunächst verhältnismäßig konventionell erzählt, sprüht nicht gerade von sprachlicher Raffinesse und bedient sich allerlei genretypischer Klischees: ruppige Männerfreundschaften; kaltblütige Stabsoffiziere; die einförmige, mit Bourbon imprägnierte Etappe.

Doch Marlantes rührt aus diesen üblichen Versatzstücken eben nicht die gängige Kolportage aus Heldenmut und Opfertod an, sondern dringt in einer überwältigenden und schonungslosen Wucht zum inneren Kern des Krieges vor.

Die Sinnlosigkeit des Grauens dokumentiert bereits die Rahmenhandlung. Winter 1969, vietnamesischer Dschungel an der Grenze zu Laos: Man folgt dem jungen und unerfahrenen Offizier Waino Mellas, der mit der Bravo-Kompanie der 5. Marineinfanteriedivision eine Feuerunterstützungsbasis (FSB) auf einer Bergkuppe errichtet. Kaum ist das Matterhorn, wie die FSB von den Soldaten getauft wird, fertig gestellt, wird die Kompanie jedoch zu einer großangelegten Operation in den Süden verlegt. Wenige Wochen später lautet der Befehl, das mittlerweile von der nordvietnamesischen Armee besetzte Matterhorn wieder zurückzuerobern. Was zunächst wie eine militärstrategische Groteske erscheint, eröffnet sich bald als Modus Operandi eines Kriegs, dessen einziges Ziel die blutige Zermürbung ist. Zunehmend erkennt auch Mellas’ Kompanie, dass man sie als menschliche Manövriermasse verheizt: Sie werden so lange in den Busch geschickt, bis die Kill Ratio, das Verhältnis von eigenen und feindlichen Verlusten, befriedigend erscheint.

Multirassistisches Milieu

Darüber hinaus kämpfen Mellas’ Marines gegen zwei weitere Gegner. Zum einen gegen den unendlichen Dschungel, der die Soldaten mit seiner meterhohen Vegetation aus Bambus und Elefantengras regelrecht verschluckt, um sie Wochen später als knochige Gespenster wieder auszuspucken. Denn selbst ohne Feindkontakt entlässt diese grüne Hölle – in der Blutegel unaufhaltbar den Körper befallen, Dschungelfäule die Haut mit Eiter überzieht und Moskitos die zerebrale Malaria hinterlassen – nur „weggeworfene Lumpenpuppen“. Zum anderen führen sie aber auch einen Kampf gegen sich selbst. Die Marines sind nicht nur Exporteure des Todes, sie beliefern den Dschungel auch mit heimischem Rassismus. Fernab der offiziellen Rhetorik von treuer Kameradschaft offenbart sich das Marine Corps als multirassistisches Milieu, in dem Weiße Schwarze hassen, Schwarze Weiße hassen und Schwarze und Weiße gemeinsam die Gooks hassen.

Unglaublich stark ist der Roman vor allem dann, wenn er den Krieg minutiös als steten Prozess psychischer Zerrüttung nachzeichnet. In mikroskopischen Nahaufnahmen illustriert Marlantes immer wieder, wie in den Sekunden bevor „weiches Fleisch gegen heißes Metall anrennt“ Panikattacken den Körper durchziehen, wie leere Mägen vor Angst erbrechen und zitternde Hände sich für die Ewigkeit in den nassen Lehmboden zu krallen versuchen. Er zeigt, wie im Angesicht des zu erklimmenden Matterhorns die Wut die Grenze zum Wahn überschreitet. Eine Wut „auf die Felswand, die Verarschung, den Hunger, den Krieg – auf alles“. Denn schließlich wissen die Marines um den Betrug. Sie wissen, dass sie einen aussichtlosen Krieg kämpfen, in dem sie, wie es Marlon Brando in Apocalypse Now formuliert, die „Laufburschen von Kolonialwarenhändlern“ spielen. Sarkastisch fragt ein Soldat aus Mellas’ Platoon: „Sagen sie mir einfach, wo das Gold ist. Das Scheißgold, oder das Öl oder Uran. Irgendwas. Herrgott noch mal irgendwas, wegen dem wir hier draußen sind. Einfach irgendwas. Dann würde ich’s kapieren. Bloß irgendwelches Scheißgold, damit das alles irgendeinen Sinn ergibt.“ Doch Sinn ergibt auch die schlussendliche Rückeroberung des Matterhorns nicht – sondern nur noch mehr Tote.

Die GIs in Matterhorn firmieren aber nicht nur als Opfer machthungriger Politiker und seelenloser Generäle. Schließlich sind sie es, die in diesem „endlosen Tanz der Infanterie“ töten – aus Angst, aus Freude, auf Befehl. Deshalb entbehrt Matterhorn jedweder patriotischen Mythisierung. Der Krieg entlässt hier nur jene als Helden, die er zuvor zu „Tiermenschen“ gemacht hat.

Matterhorn ist einerseits ein sehr amerikanischer Roman. Nicht nur, weil seine Sprache sich maßgeblich aus den Eigenheiten und Codes des Army-Slangs speist, sondern auch, weil die Erzählperspektive nicht über den Blick des US-Offiziers hinausgeht. Vietnamesen tauchen nicht als individuelle Charaktere, sondern lediglich als schablonenhafte Chimären auf. Und doch ist Matterhorn auch ein Roman, der etwas sehr Universelles erzählt. Wie der Journalist und Dokumentarfilmer Sebastian Junger, der mit War eine hoch gelobte Reportage über den Afghanistankrieg schrieb, bereits richtig in der New York Times bemerkte, ist Matterhorn nämlich nicht nur ein Buch über den Vietnamkrieg, sondern ein Buch über jeden Krieg. Es ist eine überwältigende und gleichsam verstörende Geschichte über Angst, Schuld, Hass, Wut, Wahn, Verzweiflung und Tod. Die ewige Geschichte des Krieges.

Matterhorn Karl Marlantes Arche 2012, 672 S., 25,70 €

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