Krisenzeiten, in denen Ordnungen den lang gehegten Anschein der Selbstverständlichkeit verlieren, erkennt man nicht nur an tektonischen Verschiebungen innerhalb der Parteienlandschaft, sondern auch an einer Vergrundsätzlichung gesellschaftlicher Debatten: je volatiler die Verhältnisse, desto fundamentaler die politischen Diskurse. Dass auch hierzulande schon längst etwas ins Rutschen geraten ist, mögen Wahlabende wie zuletzt in Bayern und Hessen zwar arithmetisch anzeigen, noch tiefergehender offenbart es sich jedoch vielleicht darin, dass die politischen Gräben immer weniger um Sachthemen als um Basisbegriffe gezogen werden.
Schließlich sind es vor allem Schlagworte wie Identität, Würde, Heimat, Respekt, Anstand, Moral, Umwelt, Nation, Anerkennung oder Empathie, entlang derer sich die soziale Polarisierung entfaltet. Relativ unabhängig vom konkreten Anlass, sei es die Migrationspolitik, die Rodung des Hambacher Forstes oder der Umgang mit alten Dieseln, vollzieht sich zunehmend eine Art von unterschwelliger Anthropologisierung der politischen Auseinandersetzung: Mit jeder Meinung wird zugleich das dazugehörige Menschenbild verhandelt.
Finanzielle Pflaster
So gesehen passt Melanie Mühls jüngst erschienenes Buch Mitfühlen – Über eine wichtige Fähigkeit in unruhigen Zeiten (Hanser) ziemlich gut ins derzeitige Diskursklima. Wurde im Zuge des Rechtsrucks bereits intensiv über den gerechten Zorn oder die kalte Wut der sogenannten Modernisierungsverlierer diskutiert, stellt sich ja tatsächlich die Frage, wie es sich denn mit der gegenteiligen Emotion, dem Mitgefühl, verhält. Nützt es vor allem jenem, dem es gilt? Oder doch eher dem, der es spürt? Kann die Fähigkeit zur Einfühlung ein Antidot zum autoritären Wir–Sie-Denken sein? Oder ist der Appell an die Empathie bloß eine sentimental verkleidete Depolitisierung der Verhältnisse?
Obschon Mühls schmaler Band, der Überlegungen aus der Psychologie, Kulturtheorie und Neurowissenschaft eher anekdotisch zusammenführt, sich durchaus auch mit Gewinn liest, bleibt er eigentümlich pointenlos. Am Ende steht die eher bescheidende Erkenntnis, dass man Mitgefühl zwar nicht als Allheilmittel verstehen dürfe, es aber dennoch sehr wichtig sei – und Einfühlen sich etwa auch mittels Meditation trainieren ließe. Nun, wer wollte dem widersprechen? Natürlich ist es an sich erst einmal besser, wenn Menschen mehr mitfühlender agieren. Und selbstverständlich haben Leute, die bei einem Autounfall die Handykamera zücken, bevor sie den Opfern helfen, offensichtlich ein charakterliches Problem. Die eigentlich spannende Frage, nämlich inwiefern Mitgefühl auch als politische Tugend taugt, streift das Buch nur am Rande.
Am ehesten findet man sie dort beantwortet, wo jene Positionen zu Wort kommen, die die Empathie ablehnen. Etwa bei den Vertretern des effektiven Altruismus um den australischen Philosophen Peter Singer. Laut ihnen ist das Mitgefühl nicht nur ein kurzlebiger Effekt, sondern führt im Zweifelsfall auch zum vermeintlich falschen Einsatz von Ressourcen. Wollte man die Welt nachhaltig verbessern, sollte man sich deshalb nicht von spontanen Einfühlungen leiten lassen, sondern vielmehr knallhart kalkulieren. Anstatt ein paar Münzen an Obdachlose zu geben oder sich aufgrund einer rührigen Social-Media-Geschichte an einem Kickstarter-Projekt zu beteiligen, gelte es, das Geld etwa für Moskitonetze zu spenden, die wiederum in Afrika und Asien viel effektiver Leben retten.
Man mag diesem Hardcore-Utilitarismus von Singer und Co. aus vielen Gründen problematisch finden, vor allem aber hat er mit der Mitleidsethik am Ende gemein, dass er in einer Charity-Logik verhaftet bleibt, die durch das Verteilen finanzieller Pflaster jene politischen und ökonomischen Strukturen reproduziert, die Armut, Hunger und Ausbeutung vielfach erst begründen. Mehr noch: Dort, wo existenzieller Not mittels Philanthropie kurzfristig Abhilfe geschaffen wird, verleiht Letztere dem strukturellen Elend im Zweifelsfall die moralische Legitimation des Fortbestands. Gerade deshalb hatte es ja auch gute Gründe, dass von Karl Marx, Sojourner Truth oder Martin Luther King nie Mitgefühl, sondern politische und soziale Rechte eingefordert wurden. Denn das Problem mit dem Mitgefühl ist ja eben nicht nur, dass es politisch gewendet oft zum Sozialkitsch avanciert, sondern vor allem, dass es stets eine wankelmütige Gabe bleibt, die jene zu spenden vermögen, die es sich – oft auch ganz buchstäblich – leisten können. Oder konkreter gesagt: Politisch gesehen bleibt dem Mitgefühl in der Regel jenes Herrschaftsverhältnis eingeschrieben, von dessen Effekten es erst hervorgerufen wurde.
Revolutionsfolklore
Gilt dann also schlichtweg die bekannte Zeile aus Kurt Tucholskys Gedicht Asyl für Obdachlose: „Wohltaten, Mensch, sind nichts als Dampf. / Hol dir dein Recht im Klassenkampf –!“? Die Antwort lautet einstweilen schon deshalb nein, weil man es sich mit der richtigen Strukturanalyse – gerne gepaart mit der ausgebufften Einsicht, dass der Zug der Geschichte gar nicht in einem Biomarkt im Prenzlauer Berg abfährt, Hygge auf Dänisch nicht Widerstand heißt und die Charity-Ideologie auch nicht final in den Sozialismus führt (siehe oben) – ja im Zweifelsfall ebenso bequem machen kann, indem das ausschließliche Beschwören der ganz großen Zusammenhänge am Ende lediglich als melancholische Begleitmusik der eigenen Revolutionsfolklore dient. Und dabei dürfte selbst der hartgesottenste Antikapitalist spätestens dann in ein ethisches Dilemma geraten, wenn zur Frage steht, wie viel denn theoretisch nicht gespendet und nicht kapitalistisch mitgefühlt werden darf, bis Bill Gates und Co. dann auch angemessen Steuern zahlen – und gar die Verhältnisse stürzen?
Zum anderen stellt sich die Frage, ob die Schaffung politischer Mehrheiten zugunsten sozialer Gerechtigkeit und gesellschaftlicher Pluralität nicht doch auch eine gehörige Portion (Mit-)Gefühl braucht. Es stimmt zwar: Die wachsende Einkommensschere oder der Aufstieg des Rechtspopulismus sind politische Probleme, die sich nicht allein mit fairem Konsum und Meditationskursen bekämpfen lassen. Es wäre aber ebenso ein Fehlschluss, zu glauben, die Lösung bestünde in der totalen Durchpolitisierung aller gesellschaftlichen Sphären. Dort, wo Menschen eingetrichtert wird, dass jede soziale Handlung idealerweise dem Kampf der Verhältnisse zu dienen hat, erleidet erfahrungsgemäß selbst das interessierte Publikum schnell einen intellektuellen Ermüdungsbruch.
Die Herausforderung besteht deshalb vielleicht eher darin, vorpolitische Räume für politische Räume produktiv zu machen, ohne beide dabei miteinander zu verschmelzen. Konkret gesagt: Existieren im Alltag Initiativen und Strukturen, in denen Hilfsbereitschaft, Gemeinsinn und Pluralismus ganz selbstverständlich gelebt werden, vom antirassistischen Aktionsbündnis über Kirchen bis zum Kegelverein, ist es diese Ansammlung praktischer Erfahrungen, die einen Ausgangspunkt für das Ringen um kulturelle Hegemonie bildet. Wobei der entscheidende Begriff in diesem Zusammenhang nicht das Mitgefühl ist, sondern einer, der mit diesem zwar in Verbindung steht, sich jedoch nicht im emotionalen Impuls erschöpft: Solidarität.
Denn Solidarität, wie sie in Sportvereinen oder Flüchtlingsinitiativen gleichermaßen unspektakulär wie tagtäglich existiert, ist jene gesellschaftliche Ressource, die Einfühlung zwar voraussetzt, aber über diese hinausgeht. Meint Solidarität, Menschen zu helfen, zu unterstützen oder beizustehen, auch wenn das im Zweifelsfall Anstrengung bedeutet, so befindet sie sich an der Schnittstelle zwischen Vernunft, Anstand, Empathie und, zugegeben, auch einer Portion Eigennutz. Denn das Solidaritätsprinzip besagt schließlich, dass derjenige, der sie gibt, im Zweifelsfall auch darauf hoffen kann, sie in Anspruch zu nehmen, wenn er sie braucht.
Sicher: Auch beim Begriff der Solidarität stellt sich schließlich die Frage, wie weit sie reichen kann und ab wann sie zum zuverlässigen Funktionieren in bürokratische Institutionen überführt werden muss. Im Angesicht des Rechtsrucks wäre indes schon viel gewonnen, würde man jene Formen der Solidarität, die längst überall und unscheinbar existieren, politisch stärken. Und das ist gar nicht so schwer. Dafür reicht zunächst schon Geld, Anerkennung und vor allem Aufmerksamkeit.
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