Als Franklin D. Roosevelt am 11. Januar 1944 seine berühmte „Second Bill of Rights“-Rede hielt, schwor er die Amerikaner auf den finalen Kampf gegen den Nationalsozialismus ein. Damit meinte der 32. US-Präsident aber nicht nur den militärischen Sieg gegen Deutschland, sondern auch den Kampf gegen die sozialen Ursachen des Faschismus. „Wir haben klar erkannt“, sagte Roosevelt, „dass es wahre individuelle Freiheit nicht ohne wirtschaftliche Sicherheit und Unabhängigkeit geben kann. (…) Menschen, die hungrig und arbeitslos sind, sind der Stoff, aus dem Diktaturen gemacht sind.“ Sei das „Freisein von Angst“ demnach „auf ewig mit dem Freisein von Mangel verbunden“, reklamierte der Begründer des New Deal eine Reihe sozialer Rechte, etwa jenes „auf einen nützlichen und auskömmlichen Arbeitsplatz“, „angemessene Nahrung, Kleidung und Erholung“ oder „eine annehmbare Wohnung“.
Und diese Vision Roosevelts, dass individuelle Freiheit, Frieden und Wohlstand zusammengehen, bildete für Jahrzehnte das Versprechen des westlichen Liberalismus. Freilich kam dieses Versprechen oft genug leer, ja bisweilen zynisch daher. Man denke nur an Rassismus oder den paranoiden Antikommunismus der McCarthy-Ära. Und auch die US-Außenpolitik beruhte bekanntlich weniger auf liberaler soft power als auf einer skrupellosen Interessenpolitik, die im Zweifelsfall die riesige Kriegsmaschine des Pentagons anrollen ließ.
Travestie
Dass das Versprechen des westlichen Liberalismus seinen Reiz dennoch nicht verlor und den Systemkampf mit dem Sowjetkommunismus gewann, lag zum einen daran, dass er trotz allem mehr Freiheit und Wohlstand produzierte und dies mit ein paar mehr Atomsprengköpfen untermauerte. Zum anderen aber auch daran, dass er die Fähigkeit zur Selbstkorrektur besaß. Denn all das, was die Idee der liberalen Demokratie unterminierte, der Rassismus, die extreme Armut oder die imperialen Kriege, brachte auch stets seine Gegenkräfte hervor, die Bürgerrechtsbewegung, die Sozialreformer, die Friedensbewegung. Tritt die Ära des westlichen Liberalismus mit dem Wahlsieg Donald Trumps nun in eine fundamentale Krisenphase ein, ist es hilfreich, all dies im Hinterkopf zu behalten. Will man nämlich erklären, warum im Weißen Haus bald ein milliardenschwerer Twittertroll sitzt, hat das auch mit dem Liberalismus selbst zu tun. Genauer: mit einer historischen Travestie des Freiheitsbegriffs. Wobei es in diesem Kontext nicht reicht, das Buzzword Neoliberalismus fallen zu lassen. Um zu verstehen, wie ein Immobilienmogul, der eine massive Senkung des Spitzensteuersatzes forderte und von einem Investmentbanker beraten wurde, zum Anführer eine Anti-Establishment-Bewegung avancierte, bedarf es eines genaueren Blicks.
Dieser führt zunächst zurück in die 1930er Jahre, zu einer Reihe von Denkern, die anfänglich ein ähnliches Anliegen wie Roosevelt hatten, nämlich die offene Gesellschaft vor ihren Feinden zu schützen. Dabei setzten sie jedoch andere Akzente und erreichten langfristig das Gegenteil von dem, was sie eigentlich wollten. Gemeint sind Ludwig von Mises, Friedrich August von Hayek oder Isaiah Berlin, die Vordenker jenes Liberalismus, dem man später das Präfix „Neo“ anheften wird. Vor dem aufkommenden Faschismus waren sie in die USA oder nach England geflüchtet, um in der Folge die Idee der Freiheit zu radikalisieren. Dabei ging es zunächst darum, dass eine Demokratie nie mehr ins Totalitäre kippen, die Mehrheit eine Minderheit nicht handstreichartig entmündigen dürfe. Und das bedeutete wiederum nicht nur, dass der Sozial- wieder zum Nachtwächterstaat geschrumpft werden sollte, sondern dass Gesellschaft insgesamt nur im Mindestmaß über die mehrheitsanfällige Politik und vielmehr über die konkurrenzbestimmte Ökonomie gesteuert werden müsse.
Vulgarisierung
Damit lieferten Hayek und Kollegen die theoretische Blaupause für jenen Deregulierungs- und Privatisierungsexzess, der später unter Reagan und Thatcher ins Werk gesetzt wurde. Und es war eben diese Politik, die die Industrieruinen im Rust Belt schuf und die wachsende Klasse von abgehängten Arbeitern erzeugte, deren Hass aufs Establishment Donald Trump mit ins Weiße Haus trug. Wobei man an dieser Stelle aber noch einen Schritt weiter gehen muss.
Denn die entscheidende Frage ist ja, wie genau der Neoliberalismus das sozialliberale Modell Roosevelts so nachhaltig ablösen konnte. Denn auch wenn der Neoliberalismus bisweilen mit diktatorischen Schockstrategien, etwa in Pinochets Chile, eingeführt wurde, ist er in den USA und Europa ja von vielen offen umarmt worden. Der Grund: Die Theorie des Neoliberalismus hatte auch etwas Grundsätzliches geschafft, nämlich die Idee der Freiheit auf spezifische Weise umzubesetzen. Aber wie? Um das zu illustrieren, bedarf es zunächst eines kleinen theoretischen Umwegs.
Der Begriff der Freiheit ist extrem offen, denn er kann nicht nur unterschiedliche, sondern sogar widersprüchliche Dinge meinen. Das sieht man bereits daran, dass sich selbst die erklärten Feinde der offenen Gesellschaft, etwa die Freiheitliche Partei Österreichs oder Geert Wilders’ Partij voor de Vrijheid, auf sie berufen, weil sie Freiheit nur als eine Form der Autonomie (miss-)verstehen. In der politischen Philosophie hat man dieser Unschärfe analytisch lange Rechnung getragen, indem man zwischen positiven und negativen Freiheiten unterschied. Sprich: Freiheiten zu etwas, beispielsweise das Recht auf Bildung, und Freiheiten von etwas, beispielsweise von staatlichen Paternalismus.
Doch diese Unterscheidung, bemerkt der Philosoph Claus Dierksmeier in seinem jüngst erschienenen Buch Qualitative Freiheit – Selbstbestimmung in weltbürgerlicher Verantwortung, greift zu kurz. Letztendlich sind positive und negative Freiheit oft nur zwei Seiten derselben Medaille. Wer sich etwa selbstbestimmt entfalten will, braucht dafür ein gewisses Maß an Wissen. Dierksmeier nimmt deshalb eine passendere Unterscheidung vor, und zwar die zwischen quantitativer und qualitativer Freiheit. Während Erstere die bloße Erhöhung individueller Wahlmöglichkeiten meint, beschreibt Zweitere die wechselseitige Verbesserung von Lebenschancen. Oder wie Dierksmeier schreibt: „Während quantitativ orientierte Freiheit Selbstbestimmung maximieren und Fremdbestimmung minimieren will, zielt qualitative Freiheit darauf, Selbstbestimmung durch soziale Mitbestimmung zu optimieren.“ Der zentrale Punkt liegt beim Neoliberalismus nun darin, dass er ein rein quantitatives Verständnis von Freiheit befördert hat, welches nur auf eigene Präferenzerhöhung setzt und keine sittliche Bindung gegenüber dem anderen kennt. Das führt zum Paradox, dass neoliberale Freiheit den Liberalismus doppelt unterminiert. Zum einen produziert sie jene Abgehängten, die sich in ihrem Hass auf das Establishment von der Demokratie abwenden. Zum anderen, und dieser Aspekt ist vor dem Hintergrund wichtig, dass viele Trump-Wähler gar keine Geringverdiener sind, ist rein quantitative Freiheit kompatibel mit dem Ressentiment.
Unter ihr kann die Demokratie autoritär werden, weil Liberalität nur noch als aggressive Maximierung persönlicher Chancen, nicht als gegenseitige Verantwortung gedacht wird. Anders gesagt: Bei Trump und anderen Rechtspopulisten wird Freiheit selbst zu einer knappen Marktware, die im entfesselten Konkurrenzkampf zwischen den eigenen Anhängern auf der einen und den Immigranten, Schwarzen oder Schwulen auf der anderen Seite verteilt wird. So lautete Trumps zentrale Botschaft ja auch: Ich bin laut, reich und rassistisch – und bei mir dürft ihr das auch sein. Oder wie Lauren Collins bereits im Mai im New Yorker schrieb: „Wenn Obamas Versprechen darin bestand, dass er wie du ist, ist Trumps Versprechen, dass du wie er bist.“ Die Trump-Bewegung ist somit keine Selbstkorrektur der neoliberalen Demokratie, sondern nur ihre martialische Vulgarisierung.
Die vielleicht prägnanteste Formel für das, was universalistische Freiheit im Kern bedeutet, hat Jean-Paul Sartre in seinem Buch Der Existenzialismus ist ein Humanismus geliefert: „Die Existenz geht der Essenz voraus.“ Klingt kompliziert, meint aber nur, dass der Mensch sich selbst entwirft, er sich durch sein Handeln bestimmt. Es gibt nichts Wesensmäßiges, keinen Gott, kein Geschlecht, keine Hautfarbe, keine Klasse und keine Partei, die seinem Tun vorausgeht. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum man den Liberalismus zunächst vor sich selbst retten muss – und ihn nicht einfach durch den Konservatismus oder Staatssozialismus ersetzen kann. Es reicht ein Blick ins Geschichtsbuch, um zu erkennen, dass Letztere die Freiheit aus sich selbst heraus nicht genug schützen können. Im Zweifelsfall setzen beide auf eine Essenz, der sich die Existenz unterzuordnen hat. Sei es Familie, Nation oder Gott auf der einen, Klasse, Partei oder Ideologie auf der anderen Seite. Ohne liberales Fundament wird der Konservatismus zum Mausoleum, der Sozialismus zum Menschenpark.
Was also tun? Für den Anfang wäre es die Wiedereroberung der qualitativen Freiheit, einer Freiheit, die Universalismus und Differenz, Selbstinteresse und Verantwortung so ausbalanciert, dass sie für möglichst viele Menschen Freiheit und Gerechtigkeit gewährleistet. Das wäre ein Liberalismus, der, schreibt Dierksmeier, nicht einem „Je mehr, desto besser“, sondern einem „Je besser, desto mehr“ folgt. Einer, der ökonomische Freiheit zugunsten sozialer und ökologischer Aspekte einschränkt, gerade weil er sich als pluralistisch begreift. Denn wer in Armut oder einer zerstörten Umwelt lebt, hat einen Teil seiner Freiheit bereits verloren. Es wäre ein sozialpolitisches wie moralisches Großprojekt. Oder um es mit dem Begriff Roosevelts zu sagen: ein New Deal.
Info
Qualitative Freiheit Claus Dierksmeier Transcript 2016, 456 S., 19,99 €
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