Die Weisheit der Ziegelsteine

Strandlektüre Es gibt nichts besseres, als einen fetten europäischen Roman zu lesen. Jürgen Wertheimer hat dazu die Anleitung geschrieben
Ausgabe 31/2013
Wann kommt endlich die Stelle mit den Windmühlen?
Wann kommt endlich die Stelle mit den Windmühlen?

Foto: Guy le Querrec/ Magnum Photos /Agentur Focus

Das Japanische kennt ein wunderbares Wort: Tsundoku. Es beschreibt die Angewohnheit, Bücher zu kaufen, sie dann aber ungelesen im Regal verstauben zu lassen. Ein Schicksal, das nicht nur die Bestseller von Hape Kerkeling oder Helmut Schmidt betreffen dürfte, sondern auch Klassikern widerfährt. Selbst beim größten Bücherfresser wartet meist irgendwo ein Tolstoi, Proust oder Joyce auf seinen Leser. Und sie sind ja auch einschüchternd. Warum also zu Ulysses greifen, um Leopold Bloom auf rund 1.000 Seiten durch einen eher mittelaufregenden Tag zu begleiten? Oder sich gar auf die 4.000 Seiten starke Suche nach der verlorenen Zeit machen, um Charles Swann allein 30 davon beim Einschlafen zu beobachten – zumal ja verschlankte Angebote locken: Die Verfilmung des Romans und immer häufiger auch die Graphic Novel, die in kurzer Zeit eine Ahnung des Stoffes vermitteln.

In Jürgen Wertheimers kluger wie leichtfüßiger Studie Don Quijotes Erben, die dieser Tage erschien, selbst ein 500-seitiger Ziegelstein, findet man gleich eine ganze Reihe von Argumenten. 25 Klassiker von Miguel de Cervantes bis Ingeborg Bachmann verhandelt der Tübinger Komparatistik-Professor, der dieses Jahr mit dem renommierten Grand Prix international de la Laïcité ausgezeichnet wurde.

Gleich eingangs illustriert das Buch, dass sich das Lesen großer Romane schon deshalb lohnt, weil sie deren Entstellungen zuwiderlaufen und radikale Ambivalenz erfahrbar machen. Kanonische Texte werden im kollektiven Gedächtnis manchmal bis zur Unkenntlichkeit domestiziert, Zweideutigkeiten eingeebnet, Brüche geglättet. Man kennt das vom Froschkönig: Guckt man ins Grimm’sche „Original“, ergattert der amphibische Aristokrat gar keinen Kuss, sondern wird gegen die Wand geworfen. Ähnlich verhält es sich bei Don Quijote. Cervantes’ Hidalgo ist eben nicht nur der sprichwörtliche Ritter von trauriger Gestalt, sondern ebenso „ein Gewalttäter von beachtlicher krimineller Energie“. Überhaupt offenbart sich das spanische Nationalepos als „riesiges Fragezeichen“. Oder als abenteuerlicher Roadtrip.

Verlierer und Versager

Don Quijotes Droge: heftiger Konsum von Ritteromanen. Die Folge: literarisch induzierte Wahrnehmungsstörungen. Wo Windmühlen stehen, sieht er Riesen, wo Prostituierte warten, vermutet er Burgfräulein. Der Romanheld liest einfach zu viele Romane. „Poesie hoch zwei“ werden die Romantiker das nennen. Dass die Grenze zwischen Literatur und Wirklichkeit aber tatsächlich prekär sein kann, beweisen spätestens all die, die sich im suizidalen Hype um Goethes Werther in den Tod stürzen. Cervantes’ Held wird sich zwar nicht selbst umbringen, dafür aber erst auf dem Sterbebett erkennen, dass er sich in ein phantasmagorisches Labyrinth manövriert hat. Und das macht ihn zu einem Prototyp der europäischen Literatur: „Der große Roman ist das Genre der Verlierer, Versager und Gescheiterten.“ Was in Zeitungsredaktionen gilt, gilt also erst recht in Dichterklausen: only bad news are good news. Für den Leser: Romanlektüre ist Zeitungslektüre, nur tiefer, intensiver und lehrreicher.

Im 19. Jahrhundert zeigt sich das besonders markant. Ob bei Fontane, Dickens oder Balzac – lauter Verlorene Illusionen, lauter beschädigte Leben. Doch bevor Effi, Lucien oder Pip in ihr Unglück stolpern, müssen natürlich die Rahmenbedingungen ausbuchstabiert werden. Wenn Balzac in seinen 91 Werken über 3.000 Figuren auftreten lässt, kommt das der Vermessung der bürgerlichen Welt schon ziemlich nahe. Hier ist sie, die Prosa der Verhältnisse. Und was für eine. „Keine Riesen, Windmühlen und Zauberer sind mehr die Gegner, sondern Direktoren, Börsenkurse und Betrüger; fließt kaum mehr Blut – umso stärker sind die Kapital- und Geldflüsse.“ Fiktion und Realität sind also wieder verschraubt. Wobei die Literatur natürlich nicht einfach mimetische Sittenbilder malt. „Sie imitiert nicht die ,Wirklichkeit‘ und die Dinge, sie macht sie auf neue Art sichtbar, erfindet sie neu.“ Alles, was im literarischen Kosmos passiert, ist somit ein fiktionaler Stresstest für die Realität. Und gerade deshalb vermögen Romane zu leisten, was journalistischen Kommentatoren oftmals versagt bleibt: die Explikation von Latenz. Sie bespielen jene Lücke, die Balzacs Zeitgenosse Alfred de Musset so beschrieb: „Alles, was war, ist nicht mehr. Alles, was sein wird, ist noch nicht.“ Romane, so formuliert es Wertheimer unprätentiös, sind „Lügengeschichten mit Wahrheitsanspruch.“

Bakterien und Bomben

Thomas Bernhard, der in Wertheimers Auswahl leider fehlt, hat einmal bemerkt, dass Naturbeschreibungen völliger Unsinn seien, weil die Natur ja jeder kenne. Interessant sei deshalb nur das, was sich in den Köpfen der Menschen abspiele. Etwas grobkörnig beschreibt dieses Credo die Stoßrichtung, die der Roman im 20. Jahrhundert nimmt. Zumindest wird sich das Verhältnis von Inner- und Äußerlichkeit zugunsten ersterer verschieben. Allen voran natürlich bei Proust und Joyce. Beide perfektionieren die Methode der Introspektion, beide spannen psychoanalytische Universen auf, in denen jedes Detail Bedeutung hat. Folglich braucht es als Helden auch keine Krieger, Spekulanten oder Casanovas mehr. Es reichen Normalexistenzen wie ein Anzeigenakquisiteur (in Ulysses). Wird in den Werken von Proust und Joyce buchstäblich schon alles erzählt, scheint es wenig verwunderlich, dass sich beide bei einem zufälligen Aufeinandertreffen in Paris nichts zu sagen hatten.

Proust und Joyce verbleiben in ihrer Radikalität Sonderfälle. Aber die erzählerische Tendenz zur Sublimierung findet sich auch andernorts. Zum Beispiel auf Thomas Manns Zauberberg. Nicht nur Mimik, Gestik und Konversation gehorchen hier dem Imperativ der Verfeinerung, sondern selbst der Tod kriecht nur noch als tuberkulöses Bakterium durch die Sanatoriumsgänge. Wenigstens zunächst. Denn die Schwindsucht, die sich hier immer drohend über Berghof senkt, ist nicht nur physiologischer, sondern auch welthistorischer Natur. Vermischt sich die Davoser Höhenluft immer stärker mit dem ideologischen Reizklima der Vorkriegszeit, wird der Roman zum ideengeschichtlichen Panorama – und endet mit dem Paukenschlag zum ersten „Weltfest des Todes“. Hans Castorp entschwindet dem Leser daraufhin in die Nebelschwaden flandrischer Bombenkrater.

Das heißt nicht, dass man jeden Roman lieben muss. Denn bei allem Genie kann man Thomas Manns gedrechselten Manierismus ja tatsächlich nicht nur nervig finden, sondern ihn auch als Maske (a-)politischer Naivität begreifen. Ebenso illustriert Wertheimer, dass der viel zitierte Absolutheitsanspruch der Kunst für manchen Romancier dann doch nicht so absolut war. Hatte schon Schiller stets die Finanzen im Blick, wenn er Stücke für einträgliche Gastspiele publikumswirksam abänderte, warf auch der kaufmännisch versierte Dickens beim Schreiben immer ein Auge auf den Markt. Gottfried Keller sah sich angesichts schlechter Presse schließlich sogar genötigt, eine zweite, entschärfte Fassung seines Grünen Heinrich zu veröffentlichen.

Noch einmal: Warum die großen Romane, warum die Klassiker lesen? Weil sie uns (sanft) zwingen „alles noch einmal herumzudrehen. Und alle scheinbaren Eindeutigkeiten, alles dogmatische Entweder-Oder immer neu zu hinterfragen, um sich der Ambivalenz der Dinge und des Daseins zu stellen.“ Will man sich jene Ziegelsteine nun vornehmen, Don Quijotes Erben liefert das Fundament dafür.

Don Quijotes Erben. Die Kunst des europäischen Romans Jürgen Wertheimer Konkursbuchverlag 2013, 520 S., 19,90 €

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