Fragen Sie nicht Anne Will

Wirtschaft Kapitalismuskritik boomt – und bleibt folgenlos. Warum? Die besten Gründe findet man erst auf den zweiten Blick
Ausgabe 20/2014

Letzte Woche bei Hart aber Fair hatte Sahra Wagenknecht wieder einen ihrer fast schon ritualisierten TV-Auftritte. Und wie so oft flogen ihr nicht nur die Herzen des Publikums zu. Diesmal war es beispielsweise ein des Sozialismus eher unverdächtiger Vertreter der Pilotengewerkschaft, der ihr oft zustimmte. Nun hängt Wagenknechts Popularität zwar einerseits mit ihrer rhetorischen Raffinesse und dem zwiespältigen Talent zur argumentativen Vergröberung zusammen. Andererseits darf ihre mediale Dauerpräsenz ebenfalls als Symptom einer politischen Klimaerwärmung gelesen werden.

Das unterstreicht ein Blick auf den Buchmarkt. Kapitalismuskritik gilt hier nämlich schon seit längerem als echtes Verkaufsargument. So sind allein in jüngster Vergangenheit mit David Graebers Schulden, Tomáš Sedláčeks Die Ökonomie von Gut und Böse und Thomas Pikettys Das Kapital im 21. Jahrhundert, welches zwar erst im Oktober auf Deutsch erscheint, aber jetzt schon die Titelseiten füllt, drei kapitalismuskritische Bücher zu Bestsellern avanciert, die man ob ihrer Komplexität eigentlich eher im Special-Interest-Segment vermutet hätte. Deshalb hat nun auch der letzte Verlag erkannt, dass der Klassenfeind mitliest. Schaut man in die entsprechenden Frühjahrsprogramme, fehlt bei kaum einem die obligatorische Begleitlektüre zum ökonomischen regime change.

Antimythischer Mythos

Doch warum, so wurde in der letzten Woche auch bei Anne Will diskutiert, floriert zwar radikale Systemkritik, bleibt der kommende Aufstand aber aus? Es war kaum überraschend, dass keiner in der Runde die Antwort hatte. Denn freilich gibt es hierfür ganz viele Erklärungen, von denen die meisten zwar nicht falsch, aber auch nicht ausreichend erscheinen. Hinweise, dass es Deutschland noch vergleichsweise gut geht, dass die Probleme zu vielschichtig oder die Betroffenen zu entpolitisiert seien, sind so naheligend wie vage. Vielleicht sollte man also stärker auf Argumente und Begündungen achten, die erst auf den zweiten Blick augenfällig scheinen.

So lässt sich die relative Wirkungslosigkeit der Kapitalismuskritik womöglich auch damit erklären, dass diese Kritik zunehmend als Medium einer sogenannten Interpassivität fungiert. Der vom Philosophen Robert Pfaller geprägte Begriff beschreibt, kurz gesagt, das paradoxe Phänomen, dass der delegierte Genuss dem eigenen vorgezogen wird. Als klassische Beispiele dienen hier der Chor in griechischen Tragödien oder die Lachkonserven in Sitcoms: Die Rezeption wird an das Medium selbst übertragen. Auch die tibetischen Gebetsmühlen oder die gewerbsmäßigen Klageweiber sind Medien solcher Interpassivität.

Als solch ein „Erlediger stellvertretenden Lebens“ ließe sich auch die Kapitalismuskritik dieser Tage begreifen. Sie wirkt weniger als Anstiftung zur Aktion denn vielmehr als Ersatzhandlung. Gerade weil – und nicht trotz dessen – man sich schleunigst Pikettys Buch besorgt, kann man noch eine Shoppingtour bei Amazon dranhängen. Gleichwohl sollte dieses Verhalten nicht als moralisch verwerflich, sondern vielmehr als Reaktion auf eine immanente Funktionslogik des Kapitalismus verbucht werden. Dessen ideologische Trumpfkarte, so beschreibt es der britische Kulturwissenschaftler Mark Fisher in seinem klugen Essay Kapitalistischer Realismus, besteht ja darin, dass er sich als antimythischer Mythos präsentiert. Er gibt vor, sich nur an (selbstgeschaffenen) Realitäten zu orientieren, aber genau das ist natürlich sein Mythos. Man kann das an ungezählten Realityshows oder Rap-Songs nachvollziehen. Deren implizite Botschaft lautet ja meist: It’s a hard knock life, in dem man Ellenbogen, keine Flausen braucht.

Nach einem ähnlichen Muster wurde Pikettys Buch in der angloamerikanischen Wirtschaftspresse besprochen. Zunächst lobte man zwar die statistische Expertise, sobald es jedoch um seine konkreten Reformvorschläge ging, allen voran die globale Vermögenssteuer, war man sich einig, dass diese ins Reich der Fantastereien gehörten.

Doch selbst für den Fall, dass sich tatsächlich genug Menschen für den proaktiven Protest zusammenfänden, fehlt heute das, was Peter Sloterdijk einst auf den Begriff der „Zornbank“ brachte. Damit sind Parteien, Organisationen oder Bewegungen gemeint, die großflächig in der Lage wären, die flottierende Wut zu binden, anzulegen und langfristig in emanzipatorische Projekte zu investieren, um ihren Kunden schließlich die politische Dividende auszuschütten.

Damit ein Unbehagen nicht wirkungslos verpufft oder in destruktiven Hass umschlägt, braucht es eine Zornwirtschaft, die einerseits genügend politisches Drohpotenzial aufzubauen vermag, andererseits aber auch jene affektive Domestizierung betreibt, die man bereits beim antiken Dramatiker Aischylos findet. Indem dieser seinem berühmten Stück über die Rachegöttinnen nicht den althergebrachten Namen der Erinnyen, sondern den der Eumeniden, also der „Wohlmeinenden“, gab, vollzog er einen Paradigmenwechsel. „Die Tendenz der Namensumwandlung“, schreibt Sloterdijk, „ist unmissverständlich: Wo Rachezwang war, soll ausgleichend besonnene Gerechtigkeit werden.“

Bogdanows Albtraum

Dass uns heute solche gerechten Zornbanken fehlen, liegt freilich auch am amorphen Charakter des Kapitalismus. Das wird besonders deutlich, wenn man an die vielleicht letzte große Zornbank der Bundesrepublik denkt: die Anti-AKW-Bewegung. Deren historischer Siegeszug hing nicht zuletzt damit zusammen, dass sie über ein klar formuliertes Ziel und in Folge über ein Repertoire an starken Symbolen und Ritualen verfügte, die als langfristiges Medium der Selbstvergewisserung dienten. Großdemo vor dem Reichstag, Blockade im Wendland oder der „Atomkraft? Nein danke“-Sticker: All das bildete die kommunikativ-ikonografische Grundlage ihres Erfolgs.

Offenbart sich der Kapitalismus hingegen eher als kafkaeske Konstruktion, dessen Zentrum man stets sucht, aber nie findet, dann vermag es selbst Occupy nicht, jene Symbole, Bilder oder Rituale zu stiften, die der kapitalismuskritischen Bewegung eine dauerhafte Klammer gegeben hätten.

Neben Interpassivität und Zornbank könnte ein weiteres Argument auf den zweiten Blick sein, dass gewisse Einsichten, die gerade die Mittelschichten mobilisieren könnten, in der Debatte noch gar nicht ausreichend thematisiert sind. Wohl bestehen die drängendsten sozialen Probleme in der ungerechten Vermögensverteilung, der Arbeitslosigkeit oder Kinderarmut, aber was ist mit den psychosozialen Folgen der Ausweitung der Arbeitszone? Es sind ja nicht nur die Vertreter der Generation Praktikum, sondern auch weite Teile der Mittelschicht mit einem Übermaß an (unbezahlter) Mehrarbeit konfrontiert. Ihnen offenbart sich der Neoliberalismus zusehends als ideologischer Wiedergänger sowjetischer Sehnsüchte. Und zwar nicht nur, weil jene Übererfüllungsdoktrin, mittels derer Alexei Stachanow einst zum „Helden der Arbeit“ stilisiert wurde, für Projektarbeiter und Multijobber zum Anstellungskriterium geworden ist, sondern auch, weil heute der Traum eines Alexander Bogdanow wirklich geworden ist.

Als Kopf der sogenannten Immortalisten, einer Gruppe sowjetischer Wissenschaftler, widmete sich Bogdanow in den 20er Jahren der Erforschung des unendlichen Lebens. Der wahre Kommunismus, so die Prämisse, könne nur dann herrschen, wenn auch das letzte große Privateigentum, die Zeit, vergesellschaftet sei. Die vollständige Diktatur des Proletariats wäre demnach nur über die Enteignung von Lebenslaufbesitzern zu haben. Ungewollt barg diese gruselige Dystopie eine prophetische Pointe. Denn erst heute werden Lebenslaufbesitzer, wenn auch unter umgekehrten Vorzeichen, tatsächlich schleichend enteignet. Während die Arbeitszeit also zunehmend totalisiert wird, bleiben wir mit unseren psychosozialen Problemen allein. Mehr noch: Depressionen, Erschöpfung und Ermüdung firmieren nicht nur als Ausdruck von Einzelschicksalen, sondern werden in pharmakologischen Verwertungsketten sogar noch restverwertet. Praktische Kapitalismuskritik, so lautet denn auch ein Fazit von Mark Fishers Essay, wäre weiter, gelänge es ihr, den signifikanten Anstieg psychischer Erkrankungen endlich zu politisieren. Delegieren lässt sich eine Erkrankung jedenfalls nur schlecht.

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