Für eine Kultur des Zweifelns

Analyse Der Bedeutungsverlust der Fakten verweist auf eine Krise der Institutionen
Ausgabe 51/2016

Kein anderes Wort hat die Debatten des Jahres 2016 so geprägt wie: postfaktisch. Das hat auch damit zu tun, dass es nicht nur ein temporäres Phänomen zu beschreiben versucht. Nein, ein ganzes Zeitalter soll es gleich sein. Deshalb, so erklärt die Gesellschaft für deutsche Sprache, die das Adjektiv jüngst zum Wort des Jahres kürte, heiße es auch nicht kontra- oder antifaktisch. „Ähnlich wie bei Postmoderne oder Poststrukturalismus“ liege dem Begriff nämlich „die Vorstellung einer neuen Epoche“ zugrunde. Diese sei dadurch gekennzeichnet, dass „immer größere Bevölkerungsschichten“ bereit seien, „in ihrem Widerwillen gegen ‚die da oben‘ (...) Tatsachen zu ignorieren und sogar offensichtliche Lügen zu akzeptieren“.

So plausibel sich das angesichts grassierender Fake News, der erfolgreichen Brexit-Kampagne und des Wahlsiegs von Trump auch anhören mag, so wenig neuartig erscheint es doch, wenn man genauer hinguckt. Anders gesagt: Will man jenen Phänomenen, die nun als postfaktisch verbucht werden, nahekommen, müsste man vielleicht viel eher über Institutionen und Interessen sprechen.

Aber der Reihe nach: Die Rede von der vermeintlichen Postfaktizität wirkt schon deshalb eigentümlich, weil es einen Großteil dessen, was damit bezeichnet wird, freilich auch schon vorher gab, nur dass es dann eben noch Lüge, Propaganda oder Desinformation hieß. Deshalb verwundert es auch kaum, dass die Ideengeschichte eine ganze Reihe von Schriften bereithält, die heute erstaunlich aktuell wirken. Eine davon ist Gustave Le Bons 1895 publiziertes Hauptwerk Psychologie der Massen.

„Nicht übertrieben genug“

Das liest sich streckenweise wie das Drehbuch Donald Trumps. So heißt es dort: „Der Kandidat muss übertriebene Schmeicheleien anwenden und darf kein Bedenken tragen, die fantastischsten Versprechungen zu machen. (...) Den gegnerischen Bewerber wiederum muss man zu vernichten suchen, indem man durch Behauptung, Wiederholung und Übertragung zu beweisen sucht, er sei der ärgste Schuft, von dem jeder wisse, dass er etliche Verbrechen begangen habe.“ Und weiter: „Das geschriebene Programm des Kandidaten darf nicht sehr entschieden sein, weil seine Gegner es ihm später entgegenhalten können, aber sein mündliches Programm kann nicht übertrieben genug sein. Für den Augenblick erzielen diese Übertreibungen große Wirkung und für die Zukunft verpflichten sie zu nichts.“

Schließlich findet sich beim französischen Psychologen auch schon das Prinzip von „Make America great again“. Denn der Bewerber, „der eine neue Redewendung entdeckt, die jeder bestimmten Bedeutung ermangelt und sich daher verschiedensten Wünschen anzupassen vermag, erzielt unfehlbar Erfolg“. Zeigen sich also bereits in Psychologie der Massen die Grundzüge populistischer Kampagnen, wundert es ebenso wenig, dass der frühere Geschichtslehrer und AfD-Mann Björn Höcke, so berichtete einer seiner ehemaligen Schüler, von dem Buch „regelrecht fasziniert“ sei.

Ein anderes Beispiel, das den vermeintlichen Anbruch des postfaktischen Zeitalters relativiert, sind Theodor W. Adornos 1949 und 1950 erschienene Studien zum autoritären Charakter. Eine Passage dieser Untersuchungen, die auf empirischen Erhebungen in den USA der 40er Jahre beruhen, macht das besonders deutlich und verdient es deshalb, ausführlich zitiert zu werden: „Alle modernen faschistischen Bewegungen, einschließlich der Praktiken der modernen amerikanischen Demagogen, haben es auf die Unwissenden abgesehen; sie stutzen die Tatsachen bewusst in einer Weise zurecht, die nur bei denen zum Erfolg führt, welche mit ihnen nicht vertraut sind. Die Unkenntnis von der heutigen komplexen Gesellschaft führt zu einem Zustand allgemeiner Unsicherheit und Unruhe, der den Nährboden für reaktionäre Massenbewegungen modernen Typs abgibt. Es ist kein Zufall, dass der Faschismus niemals eine zusammenhängende Gesellschaftstheorie entwickelt hat, sondern theoretisches Denken und Wissen als ,Entfremdung von den Ursprüngen‘ verächtlich macht.“

Und weiter heißt es bei Adorno: „Die Verquickung von technischer Fertigkeit und „realistischem Sich-um-sich-selbst-kümmern-Wollen“ einerseits mit der sturen Weigerung andererseits, die Wirklichkeit geistig zu erfassen, ist genau das Klima, in dem faschistische Bewegungen gedeihen. Wo diese Anschauungsweise vorherrscht, kann es in Krisensituationen leicht zur allgemeinen Übernahme ideologischer Formeln kommen, die heute noch als Vorrecht von Extremisten gelten.“

Also alles halb so schlimm, weil alles schon bekannt? Nein. So sehr die beiden Beispiele verdeutlichen, dass es sich beim Begriff des Postfaktischen um ein aufgeblasenes Modewort handelt, das Zustände beschreibt, die keineswegs neu sind, so ändert dies einerseits ja nichts an der Sache selbst. Andererseits haben historische Vergleiche auch ihre Grenzen. Was die heutige Situation von jener Le Bons oder Adornos unterscheidet, ist etwa die Existenz von Facebook, Twitter und Google.

Wobei man auch hier mit einer Ambivalenz konfrontiert ist: Dient das Netz einerseits als Katalysator für erfundene Geschichten und gefälschte Zitate, bietet es gleichzeitig auch die Plattformen für deren Überprüfung. Insofern wir in einem Zeitalter des Postfaktischen leben, leben wir gleichzeitig auch im Zeitalter des Fact-Checking. Nie war dieses so einfach, transparent und vor allem schnell wie heute. Das jüngste Beispiel ist dafür etwa ein Tool der Washington Post, das Trumps Tweets auf ihre Richtigkeit überprüft. Man mag also über Algorithmen diskutieren oder abwägen, inwiefern sich gegen Fake News gesetzlich vorgehen lässt. Am eigentlichen Problem führt jedoch auch das vorbei. Trumps Wahlsieg und der Aufstieg der Rechtspopulisten sind nämlich vor allem eins: Krisensymptome von Institutionen, also der parlamentarischen Demokratie, den staatlichen Bürokratien und den traditionellen Medien.

Wenn AfD-Anhänger „Lügenpresse“ rufen oder Trump-Wähler „das System“ für manipuliert halten, zielt dieser Protest ja eben nicht nur auf bestimmte Personen oder politische Entscheidungen, sondern immer aufs Ganze. Die eingangs erwähnte Bereitschaft, Tatsachen zu ignorieren, basiert also zunächst einmal auf einem Vertrauensdefizit gegenüber Institutionen. Deshalb ist das auch der entscheidende Aspekt: Vertrauen. In seinem gleichnamigen Buch von 1968 definiert der Soziologe Niklas Luhmann dieses als zentrales Mittel zur Komplexitätsreduktion. Das heißt: Wer einer Person oder Institution vertraut, also grundsätzlich von deren Redlichkeit und Wahrhaftigkeit überzeugt ist, kann ihre Selektionsleistungen nutzen. Das kennt jeder aus dem Alltag. Wer seinem Arzt vertraut, muss keine Selbstdiagnosen erstellen. Wer sich von einem Freund beim Computerkauf beraten lässt, muss nicht zig verschiedene Kataloge wälzen.

Gleiches gilt auch auf übergeordneter Ebene: Wer Parteien und Medien grundsätzlich vertraut, was nicht heißen muss, dass er deren spezifische Positionen teilt, sondern nur, dass er von der Legitimität und Plausibilität ihrer Arbeitsweisen überzeugt ist, erspart sich eine Menge Aufwand. Doch kann aus Vertrauen eben auch Misstrauen werden, zunächst einmal ganz unabhängig davon, ob dies aus plausiblen oder unplausiblen Gründen, ob aus linker Ablehnung der „bürgerlichen Medien“ oder rechter Verachtung der „Lügenpresse“ geschieht.

Der Pakt der Rechtspopulisten

Für Luhmann ist nun aber entscheidend, dass Misstrauen nicht einfach das Gegenteil von Vertrauen ist, nicht einfach dessen Abwesenheit. Letzteres hieße nämlich, dass die ursprüngliche Komplexität der Lebenswelt wiederhergestellt wäre. „Solches Übermaß an Komplexität“, so der Soziologe, „überfordert aber den Menschen und macht ihn handlungsunfähig.“ Deshalb ist das Misstrauen nicht bloß die Abwesenheit von Vertrauen, sondern dessen funktionales Äquivalent: Misstrauen reduziert Komplexität, indem es Erwartungen nicht ins Positive, sondern ins Negative zuspitzt.

„Diese negativen Strategien“, betont Luhmann, „geben dem Misstrauen jenes emotional gespannte, oft krampfhafte Naturell, das es vom Vertrauen unterscheidet. Ihr Repertoire reicht von der Definition des Rollenpartners als Feind, der bekämpft werden muss, über ein grenzenloses Ansammeln eigener Reserven für Notfälle bis zum Verzicht auf alle abschreibbaren Bedürfnisse.“ Auch Misstrauen sorge somit für Vereinfachungen. „Wer misstraut, braucht mehr Informationen und verengt zugleich die Informationen, auf die zu stützen er sich getraut. Er wird von weniger Informationen stärker abhängig. Damit gewinnt die Möglichkeit, ihn zu täuschen, wiederum an Berechenbarkeit.“

Der Pakt, den Rechtspopulisten mit ihren Wählern schließen, lautet also: Donald Trump und Kollegen bestärken das Misstrauen ihrer Anhänger, was ihnen wiederum mit Abhängigkeit und Berechenbarkeit gelohnt wird. Es ist, wenn man so will, ein politisches Stockholm-Syndrom. Dass die Linke dem momentan so wenig entgegenzusetzen hat, liegt auch daran, dass sie auf eigenem Feld geschlagen wird. Traditionell ist Misstrauensmanagement schließlich auch ihr Metier, wenn auch unter anderen Vorzeichen.

Aber gerade deshalb müsste die Linke deutlicher machen, dass ihr Misstrauen nicht die Beschneidung oder Abschaffung demokratischer Institutionen, sondern deren Verbesserung und Ausweitung zum Ziel hat. Dass Parlamente, Bürokratien und Medien gerade dadurch vertrauenswürdig werden, dass sie ständige Selbstkritik und Selbstkontrolle verinnerlichen. Das kann ihr aber nur gelingen, wenn sie im Gegensatz zu den Rechtspopulisten nicht einfach positive Erwartungen in negative verkehrt, sondern vielmehr eine universelle Kultur des Zweifelns stärkt. Zweifel an den herrschenden Verhältnissen, aber stets auch an eigenen Positionen. Oder anders gesagt: Eine kritische Opposition zum „Mainstream“ kann nie Zweck an sich, sondern nur Mittel sein.

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