Wer über Hitlers Mein Kampf reden will, muss zuerst vom magischen Denken sprechen. Kaum einem anderen Buch wurde solch ein auratischer Effekt, solch eine kultische Sogwirkung unterstellt, wie dem mit Hass vollgepumpten Pamphlet des „Führers“. Einerseits von den Nationalsozialisten selbst, die das Werk zu einem Fetischobjekt stilisierten, etwa durch die Anfertigung einer Einzelausgabe, die, handgeschrieben auf Pergament, in einem Holzschrein aufbewahrt wurde. Andererseits aber auch in der Nachkriegszeit, wo Mein Kampf weiterhin verdächtigt wurde, eine Art hypnotischen Effekt zu entfalten. Das Buch firmierte als Paperback der Pandora. Die Devise: nicht öffnen.
Eine Haltung, die sich auch in den jüngsten Debatten zur Wiederveröffentlichung zeigte. Nach
46;ffentlichung zeigte. Nachdem das Urheberrecht der maßgeblich 1924 verfassten Kampfschrift, welches nach Ende des Zweiten Weltkriegs auf den Freistaat Bayern überging, am 1. Januar diesen Jahres auslief, folgte eine Woche später die Publikation einer „kritischen Edition“ des Münchner Instituts für Zeitgeschichte. Obwohl diese Hitlers Rassenwahn mit über 3500 Anmerkungen zu Leibe rückt, befürchteten viele dennoch, dass das Werk abermals seine vermeintliche Verführungskraft versprühen könnte.Leere und EntschiedenheitDiese Sorge wirkt bereits deshalb etwas eigentümlich, weil jeder, der wollte, sich das Buch bis dato auch antiquarisch oder im Netz besorgen konnte. Ganz abgesehen davon, dass Hitlers unleserliches Konvolut heute kaum jemandem zum Neonazi machen dürfte. Alle Diskussionen also umsonst? Keineswegs. Allein schon deswegen, weil manche Debattenbeiträge tatsächlich neue Einsichten liefern.Allen voran Albrecht Koschorkes jüngst veröffentlichter Essay Adolf Hitlers „Mein Kampf“ – Zur Poetik des Nationalsozialismus. Hatte Gert Ueding im Freitag kürzlich bereits Hitlers rhetorische Mittel beschrieben, so widmet sich der in Konstanz lehrende Germanist in seinem nicht einmal einhundert Seiten starken Text ebenfalls weniger dem konkreten Inhalt als vielmehr der Inszenierungsart der Hetzschrift. Denn ihm geht es um die Erzählstrategien des „Führers“. Erzählstrategien? Ja. Obschon Hitler im Gegensatz zu vielen anderen Diktatoren – von Stalin, Mao und Mussolini über Gaddafi bis Saddam Hussein – nebenher weder Gedichte noch Erzählungen verfasste, sondern ausschließlich auf das Genre des politischen Pamphlets setzte, kann auch hier das literaturwissenschaftliche Handwerkszeug helfen, um die Machart dieses Machwerks freizulegen.Zunächst beginnt der Literaturwissenschaftler jedoch bei Hitlers Person, nähert sich dieser aber nicht psychologisierend, sondern funktional. Er verbucht ihn als trigger, jemanden, der psychosozialen Sprengstoff zur Explosion bringt. „Der trigger gibt entweder den aufgestauten Aggressionen ein Ziel vor, oder es gelingt ihm, umlaufende Erwartungen, Hoffnungen, Wünsche in den Brennpunkt eines koordinierten Erneuerungswillen zusammenzuziehen.“ Bei Hitler, der sich ideologisch ja zunächst „nur“ den kursierenden weltanschaulichen Versatzstücken des völkischen Milieus bediente, war beides der Fall.Deshalb, so Koschorke, konnte Mein Kampf zur „symbolischen Mitte des totalitären Systems“ avancieren. Und das ist insofern keine Selbstverständlichkeit, als dass die Nazis dem gedruckten Wort eigentlich nicht viel abgewannen. Im Gegensatz zum Stalinismus, der Marx- und Lenin-Regalmetern huldigte, setzten die Nazis propagandistisch auf Radio und Film. Aber warum konnte das Buch dennoch solch eine Karriere hinlegen?Einerseits, weil hier bestimmte Erzählmuster bedient werden. Das zeigt sich etwa an jenem Punkt, wo Hitler seinen Antisemitismus „erklärt“. Hatte er zuvor all seine einmal gewonnenen Anschauungen als allzeit „unerschütterlich“ dargestellt, legt er in diesem Fall aber plötzlich Wert darauf, dass dem Hass auf die Juden eine Art sukzessiver Entwicklungsprozess vorausging. Dieser habe eingesetzt, als er in seinen Wiener Jahren auf einer Baustelle arbeitete und schlechte Erfahrungen mit sozialdemokratischen Gewerkschaftern machte.Wenngleich diese Episode dem Forschungsstand nach erfunden ist, da der schmächtige Hitler niemals derart körperlich gearbeitet hat, verfügt sie dennoch über eine doppelte Funktion. Nicht nur werden hier Sozialdemokratie und Kommunismus en passant als Teil der „jüdischen Weltverschwörung“ markiert, sondern die Leser auch „abgeholt“. Denn „in der Frühzeit einer radikalen politischen Bewegung“, so Koschorke, „muss auch immer die Skepsis der noch nicht vollkommen zur Sache Bekehrten mitbedacht werden.“ Dementsprechend deutet Hitlers Konversionsgeschichte „auf eine zweite, weniger ideologische als ideologietechnische Lesbarkeit seines Buches hin“.Dabei wird ein anderer Aspekt des Werks deutlich. Es besitze nämlich den „Charakter eines Manuals“, richtet sich also weniger an die Massen, als vielmehr an die Funktionäre der Bewegung, den „inner circle“ des zukünftigen NS-Staats. Aus zwei Gründen: Leere und Entschiedenheit. Zum einen zeichne sich das Pamphlet nämlich dadurch aus, dass es eben über keine kohärente Ideologie verfügt, sondern lediglich wirre Ideologeme zusammenwürfelt. Aber gerade das habe in bestimmten Milieus – prekäre Intellektuelle, Beamte oder gescheiterte Autodidakten – den Anreiz geliefert, der NS-Bewegung „mit eigenhändigen Präzisierungen intellektuell aufzuhelfen.“ Deshalb ließe sich sagen, „dass gerade die Defizite von Hitlers schwülstiger Kampfschrift für den historischen Erfolg des Nationalsozialismus nützlich gewesen sein können.“Hass ist nicht blindZum anderen verfüge Mein Kampf auch über eine „Sogkraft der Drohung“. Wenn Hitler fordert, „gegen Giftgas mit Giftgas zu kämpfen“ und permanent die Notwendigkeit des Straßenterrors beschwört, findet sich hier eine Form des unversöhnlichen Dezisionismus, der für all jene attraktiv war, die für echte oder eingebildete Kränkungen Revanche forderten. „Entschiedenheit in der Entschiedenheit, nicht blinder Gehorsam gegenüber einer Ideologie bildete das verbindende Element unter den Akteuren des Nationalsozialismus.“Hass, so folgert Koschorke, ist also oft eben nicht blind. Vielmehr zeichne sich Fanatismus durch eine „hysterische Reflexivität“ aus. Das heißt: „In der Art, wie er sich zum Ausdruck bringt, ist die Reaktion der anderen – das Besserwissen, die Empörung, das Entsetzen – mit argwöhnischer Genauigkeit mitkalkuliert.“ Bedenkt man nun, mit welcher Lust heute etwa ein Björn Höcke seine rassistischen Thesen loslässt, wie ungerührt er auf medialen Protest reagiert, so zeigt sich in dieser Einsicht womöglich eine gespenstische Aktualität.Placeholder infobox-1Placeholder infobox-2
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