Seit 35 Jahren arbeitet sie als Putzfrau, in Vollzeit, gewerkschaftlich organisiert in der IG Bau. Sie hat ihre Kinder großgezogen und ihren Vater gepflegt und ist mittlerweile an Krebs erkrankt. Der Rentenbescheid der 57-Jährigen beläuft sich auf gerade mal 735 Euro. „Ich war nie faul. Ich habe immer malocht. Und das ist ungerecht“: Das ist die Botschaft von Susanne Neumann aus Gelsenkirchen. Die SPD hatte die Frau kürzlich auf ihre sogenannte Gerechtigkeitskonferenz eingeladen, als „Stimme aus dem Volk“ und als Sparringspartnerin für Sigmar Gabriel. Auch bei Anne Will und Markus Lanz saß Neumann jetzt auf den Talksesseln. Ein Mensch, der trotz allen Fleißes nicht über die Runden kommt: So geht es bekanntlich vielen. Susanne Neumann ist eindeutig eine Frau – und dennoch derzeit die ideale Verkörperung des „kleinen Mannes“.
Am Stammtisch, in Leitartikeln, im Bundestag: Überall wird über ihn gesprochen, werden seine realen – oder vermuteten – Wünsche, Nöte und Sorgen diskutiert. Ja, allseits wird versichert, dass er im Mittelpunkt der Politik stehen müsse! Und tatsächlich: Die Scheinwerfer sind dieser Tage voll auf Frau Neumann gerichtet, auf den weiblichen „kleinen Mann“ der Stunde. So wie schon 2012 eine Kollegin von ihr herumgereicht wurde: Auch die hessische Putzfrau Maria Watt saß bei Anne Will, auch sie sprach über ein Leben voller Mühen und über die Minijobs, ohne die sie als Rentnerin nicht durchkäme.
Selbst-Verzwergung und ...
Beide Frauen beeindrucken nicht nur mit ihrer Lebensleistung, sondern auch mit ihrer Ernsthaftigkeit, mit ihrem klar formulierten Einspruch gegen die Verhältnisse. Geändert hat sich seit der Medienrunde von Maria Watt vor vier Jahren aber wenig bis nichts. Und auch Susanne Neumanns Auftritte werden womöglich nicht viel bewirken. Zwar wird inzwischen anerkannt, dass der kleine Mann auch eine „kleine Frau“ sein kann, zwar sprechen manche jetzt lieber geschlechtsneutral im Plural von den „kleinen Leuten“. Ansonsten ist aber alles beim Alten.
Der kleine Mann ist – und bleibt – eine der wirkungsmächtigsten Sozialfiguren, die das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat. Ein Vorführmodell und ein Phantom. Eine Phrase, die immer dann Konjunktur hat, wenn es im gesellschaftlichen Gebälk knirscht. Die Rentendebatte, die Diskussionen um TTIP, die sogenannte Flüchtlingskrise: Eifrig wie lange nicht mehr konkurrieren derzeit die selbsternannten Anwälte des kleinen Mannes wieder mal um dessen Mandat. Alexander Gauland konstatierte, dass die AfD sich dort, wo „der kleine Mann ungerecht behandelt wird“, für ihn einsetzen wolle, während Markus Söder von der CSU warnte, dass „die kleinen Leute die Integration (der Flüchtlinge) zahlen“. André Brie, Vordenker der Linkspartei, sagte unlängst im Freitag: „Der kleine Mann soll nicht nur im Programm auftauchen, sondern in unserem Herzen“, und Sigmar Gabriel fordertete, die SPD müsse wieder zur „Schutzmacht der kleinen Leute“ werden.
Angesichts seiner diskursiven Dauerpräsenz stellt sich die Frage: Wer genau ist er wirklich, dieser kleine Mann? Die banale Antwort besteht in der schlichten Erkenntnis, dass er den Sammelbegriff für jene Bevölkerungsteile bildet, die irgendwo zwischen oberer unterer Mittelschicht und unterer oberer Unterschicht zu Hause sind. Oder, wie es das Wörterbuch der deutschen Ideomatik formuliert: Er ist „der wenig einflussreiche, finanziell nicht besonders gut gestellte Durchschnittsmensch“. Eben dieser Durchschnittsmensch, so konnte man in einer ARD-Reportage von Christian Heynen erfahren, trinkt zwei Gläser Bier am Tag, arbeitet 41,9 Stunden pro Woche und vergießt einen halben Liter Tränen im Jahr.
Derlei Statistiken verraten indes wenig über konkrete Menschen wie Susanne Neumann; vor allem sagen sie auch nichts darüber aus, welche Funktion der kleine Mann als mythopoetisches Kollektivsubjekt im politischen Imaginären einnimmt. Warum wir also wie über ihn (oder sie) sprechen.
Dass die Figur des kleinen Mannes eine mythische Funktion übernimmt, zeigt schon ein Blick in die Literaturgeschichte. Hier begegnen einem lauter kleine Männer in großen Geschichten. Kann man ihn schon in Georg Büchners Woyzeck erkennen, so zeigt er sich exemplarisch in den Klassikern des frühen 20. Jahrhunderts, sei es als Josef K. in Franz Kafkas Prozess (1914/1915), Franz Biberkopf in Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz (1929) oder als Herr Pinneberg in Hans Falladas Kleiner Mann – was nun? (1932). Er spielte sich in den Rollen Heinz Rühmanns in die Filmgeschichte und verlieh zuletzt in den nuller Jahren einer Comedy-Serie mit Bjarne Mädel den Namen.
So unterschiedlich seine Darstellungen sein mögen, so vielschichtig die Kontexte: Seine Geschichte ist immer eine der Übervorteilung und des Betrugs. In Falladas Roman erklärt Herr Pinneberg seiner Frau Emma: „Mit uns kleinen Leuten machen sie, was sie wollen ...“ Der kleine Mann strengt sich an, steht immer wieder auf – wird aber klein gehalten, verlacht und ausgebeutet. Das zeigt auch der Metaphernwald, in dem sich er bewegt: Er „zahlt immer die Zeche“, da man’s „mit ihm ja machen kann“, weil er stets die „Arschkarte zieht“. In all seiner Grobkörnigkeit birgt dieser Erzählstrang freilich eine Wahrheit. Man muss sich nur die globale Vermögensverteilung anschauen oder daran erinnern, wer die Folgen der Finanzkrise bezahlt hat.
Doch der kleine Mann steigt nicht auf die Barrikaden. Seine Tragik liegt darin, dass er, hegelianisch gesprochen, immer nur „an sich“, nie „für sich“ ist, also kein kollektives Bewusstsein entwickelt. Er beschwert sich, klagt und raunt, aber er kennt keine Bewegungen, keine Aufstände. Das offenbart sich etwa in Siegfried Kracauers 1930 erschienener Studie Die Angestellten. Hier beschreibt der Soziologe die aufkommende Dienstleistungsgesellschaft und diagnostiziert, dass für deren Vertreter zwar „ähnliche soziale Bedingungen wie für das eigentliche Proletariat“ herrschen, jedoch mit dem Unterschied, dass erstere „geistig obdachlos“ seien und sich fürchteten, „aufzublicken und sich bis zum Ende durchzufragen“. Anders gesagt: Die Rede vom kleinen Mann geht aus der Konkursmasse des Proletariats hervor. Aus stolzen, organisierten und buchstäblich selbst-bewussten Arbeitern – wie auch die Putzfrau Susanne Neumann noch eine ist –, entsteht die symbolische (Selbst-)Verzwergung des postmodernen Prekariats.
Das Narrativ des kleinen Mannes enthält aber noch einen anderen Aspekt: den Willen zur doppelten Distinktion. Einerseits geht es um die Abgrenzung von „denen da oben“, von „der Politik“ und „den Eliten“. Deshalb firmiert der kleine Mann, der Common Man oder Monsieur Tout le Monde, stets als natürlicher Verbündeter der Linken, der zwar (noch) unter „falschem Bewusstsein“ leidet, den man über seine wahren Interessen aber aufklären kann.
Doch das funktioniert oft nur mäßig. Denn so mancher kleine Mann grenzt sich nur zu gern auch von jenen ab, die noch weiter unten oder ganz außerhalb stehen. Die Sehnsucht nach dem Nicht-Betrogen-Werden äußert sich historisch bekanntlich nicht nur in sozialrevolutionären Forderungen – sondern ebenso im völkischen Denken, in einer rassistischen wie mörderischen Reinheitsfantasie des Sozialen. Diese Fantasie vespricht eine „explosionshafte Solidarität“, wie es der Soziologe Heinz Bude formuliert. Nach dem Motto: Sind die Fremden, die Andersgläubigen, die „Schmarotzer“ erst einmal ausgeschlossen, bekommt auch der kleine Mann sein Stück vom Kuchen! Und ist das nicht genau auch der Grund, warum AfD, Front National oder Donald Trump momentan so reüssieren – und FPÖ-Kandidat Norbert Hofer, so ergab eine Wahltagsbefragung des Sozialforschungsinstituts SORA, bei der österreichischen Präsidentschaftswahlwahl 86 Prozent der Stimmen der Arbeiter geholt hat?
... Selbstverachtung
Der nicht unumstrittene Psychoanalytiker Wilhelm Reich (1897 – 1957) hatte in einem Punkt womöglich Recht. Vor den Nazis geflohen, von den Kommunisten verfolgt und auch in seiner Wahlheimat USA unter Druck, verfasste er 1946 seine Rede an den kleinen Mann: „Du hast vor mir geweint, gejammert, deine Sehnsüchte beschrieben.“ Dann sogleich das harte Urteil: „Du lässt Machthaber Macht ,für den kleinen Mann‘ beanspruchen. Doch du selbst bist stumm.“ Was Reich umtrieb: Obschon die Revolutionen in den Metropolen der Welt die Freiheit versprachen, hat der kleine Mann am Ende immer die reaktionäre Karte gezogen: „Dein Paris endet in Pétain und Laval, dein Wien in Hitler, dein Russland in Stalin und dein Amerika könnte im Regime des KKK enden.“ Anstatt sich selbst zu befreien, habe der kleine Mann letztlich also immer andere versklavt. Warum? Weil er, so Reich, den Frust über seine Verzwergung mit der Glorifizierung von Nation, „Rasse“ oder Religion zu kompensieren sucht: „Du verachtest dich selbst im Geheimen, auch dann, und gerade dann, wenn du deine Würde vor dir herträgst“.
Reichs Analyse verdeutlicht, dass die Sozialfigur des kleinen Mannes höchst ambivalent ist. Sie ist letztlich ein „Mythos des Alltags“ (Roland Barthes): Wird vom kleinen Mann gesprochen, scheint damit selbsterklärend eine bestimmte Masse von Menschen beschrieben zu sein, oft auch „schweigende Mehrheit“ genannt. Tatsächlich wird diese aber erst in diesem Moment sprachlich konstituiert – und mit einem imaginären Kollektivwillen ausgestattet.
Genau deshalb funktioniert die Sozialfigur des kleinen Mannes oft als rhetorisches Kostüm, das sich jeder zur Selbstviktimisierung überstreifen kann. Etwa die AfD, die stets beteuert, dass sie als einzige Partei die Sorgen des kleinen Mannes artikuliere, wenngleich eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln jüngst ergab, dass die AfD-Anhänger in weiten Teilen zu den Besserverdienern gehören. Sich selbst als kleiner Mann zu gebärden, verleiht dem eigenen Gefühl des Betrogen-Werdens eine pseudo-authentische Legitimität. So lässt sich vor Flüchtlingsheimen gleich noch besser „Wir sind das Volk“ schreien. Wilhelm Reich schrieb 1946, und es klingt verblüffend heutig: „Du bist nicht ,das Volk‘, kleiner Mann. Du bist der Verächter des Volkes, denn du verwaltest nicht sein Recht, sondern deine Karriere.“
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