Kreuzung am Ende des Tunnels

Ökonomie Auch wenn er am Ende kneift und den Hoffnungsjoker zieht: Wolfgang Fritz Haugs "Hightech-Kapitalismus in der Großen Krise" ist eine scharfe Analyse der Kapitalismuskrise

Als der Zusammenbruch von Lehman Brothers im September 2008 die Finanzkrise einläutete, wurden nicht nur hastig Bilanzen, sondern auch Begriffe korrigiert. Marktwirtschaft hieß jetzt wieder Kapitalismus. Mehr noch: Unter dem Eindruck globaler Börsenturbulenzen spuckte die mediale Diskursmaschine eine ganze Reihe schauriger Superlative aus: Turbo-, Kasino- oder Raubtier-Kapitalismus.

Mögen solche zackigen Schlagworte das allgegenwärtige Unbehagen an der entsicherten Weltwirtschaft bedienen, sind sie analytisch doch unbrauchbar. Einerseits, weil sie unpräzise sind. Beim gern von Helmut Schmidt gebrauchten Raubtier-Gleichnis könnte man sich beispielsweise fragen, bei welcher Rendite räuberische Profitmaximierung denn beginnt? Andererseits, weil sie lediglich einen moralisierenden, aber keinen systemischen Zugriff auf die Krise erlauben. Denn wer vom gierigen Zocker spricht, setzt implizit auf die Ehre des Kaufmanns.

Darf man den theoretischen Nutzen von Bindestrich-Kapitalismen also bezweifeln, kann einen der schneidige Titel von Wolfgang Fritz Haugs neuem Buch Hightech-Kapitalismus in der Großen Krise zunächst skeptisch machen. Doch dem 2001 an der FU Berlin emeritierten Philosophen, der 1971 mit seiner Kritik der Warenästhetik ein Standardwerk der 68er-Generation verfasste und als eine Art bundesrepublikanischer Doyen linker Theorie gilt, geht es hier gerade nicht um Lektionen in Wirtschaftsethik. Ganz im Gegenteil begibt er sich in einer faktenreichen und theoretisch dichten Studie auf die Suche nach den systemischen Krisenbewegungen des Kapitalismus. Und dies erfreulicherweise ganz ohne exorzistischen Eifer, sondern mit 367 Fußnoten und der nüchternen Diktion des Wissenschaftlers. Das macht die Lektüre zwar bisweilen etwas sperrig, verleiht dem Buch aber analytische Schärfe.

Gerüstet mit dem Marx’schen Begriffsapparat und einer Fülle von Zahlen illustriert Haug zunächst die Chronik der Finanzkrise, um anschließend detaillierte Ursachenforschung zu betreiben. Sein Ergebnis kann dabei überraschen. Die Verantwortung sieht er nämlich primär nicht beim Finanzmarkt. Vehement wendet er sich sogar gegen dessen „mythische Personifikation“ und verbucht den Ruf nach seiner Regulierung als nötige, aber letztlich doch kosmetische Forderung. Spekulationsblasen, schreibt Haug, habe es schließlich schon seit der großen holländischen Tulpenmanie im 17. Jahrhundert gegeben. Deren zerstörerische Kraft stellt er damit zwar keineswegs in Abrede, jedoch sieht er sie eben nur als Folgephänomen eines viel grundsätzlicheren Problems: der Überakkumulation des Kapitals. Dies meint, einfach gesagt, dass der immanente Zwang des Kapitals zur stetigen Selbstvermehrung dessen eigene Existenzgrundlagen schleichend zerstört. Wenn das Kapital sich nämlich bei fehlender Umverteilungspolitik den gesellschaftlich produzierten Mehrwert permanent nur selbst aneignet, verhindert dies die Entstehung jener Massenkaufkraft, die es wiederum als Realisationsmittel für sein weiteres Wachstum benötigt. Ein inhärenter Widerspruch, den Haug prägnant mit einem englischen Sprichwort verdeutlicht: You can’t have the cake and eat it.

Kein Außen, kein Innen

Entsprechend weist Haug auch die beliebte Unterscheidung von vermeintlich schlechtem Finanz- und gutem Realkapital zurück. Denn beide Kapitalformen blieben im Problemfeld der Überakkumulation untrennbar verwoben. Dies zeige sich nicht nur an Konzernen wie General Electric oder Porsche, die mittlerweile eher Hedgefonds mit angeschlossener Warenproduktion sind, sondern eben auch an der Entstehung der Finanzkrise. Sofern dem Kapital die nötigen Investitionsmöglichkeiten innerhalb der produzierenden Wirtschaft fehlten, suchte sich das Überangebot von unbeschäftigtem Geld andere Ertragswege – und wurde somit schließlich zur Triebkraft jener finanzökonomischen Alchemie, mit der Lehman Brothers und Co die Schulden amerikanischer Hausbesitzer in Gold verwandeln wollten. Doch lassen sich Kreditketten eben nicht ins Unendliche verbriefen, deshalb folgte auch hier 2008 die große Kapitalvernichtung auf dem Fuße.

Nun ist das Theorem der Überakkumulation, das vor allem auf Marx und Rosa Luxemburg zurückgeht, weder neu und erst recht nicht unumstritten. Und mit ein bisschen Zynismus könnte man mit Joseph Schumpeter auch darauf vertrauen, dass die „schöpferische Zerstörung“ nun einmal notwendiger Teil des Konjunkturzyklus ist. Doch Haugs Argumentation verbleibt deshalb äußerst bedenkenswert, weil er die These des Akkumulationsproblems nicht nur mit einer Vielzahl aktueller Wirtschaftsdaten unterfüttert, sondern sie auch nachvollziehbar in den Rahmen politischer Gegenwartstheorie einpasst.

Hier kommt schließlich das „Imperium des Hightech-Kapitalismus“ zum Tragen. Damit meint Haug im Prinzip, was Antonio Negri und Michael Hardt bereits vor zwölf Jahren in ihrer Theorie vom „Empire“ konzeptionalisiert haben: Die epochenspezifische Ordnung eines globalen Regimes transnationaler Konzerne, die auf der Basis hochtechnologischer Produktionsweisen und IT-Netzwerken operieren. Eine amorphe Superstruktur des Kapitals, die kein Außen und kein Innen kennt. Die Betonung des Hightech-Aspekts ist für Haug nicht nur deshalb wichtig, weil sich die wirtschaftlichen Bewegungsformen beschleunigen, sondern auch, weil sich durch technologische Innovationen und transnationale Produktionsketten die globalen Kräfte- und Konkurrenzverhältnisse verschieben.

Er demonstriert das anhand jenes Feldes, in dem das „Imperium“ die höchste Verdichtung aufweist: der chinesisch-amerikanischen Handelsströme. Denn was gemeinhin als Globalisierung bezeichnet würde, sei auf die Formel „Reagonomics + Deng Xiaoping-Ideen“ zu bringen. Seit der historisch fast gleichzeitig einsetzenden Neoliberalisierung der USA und der chinesischen Reformpolitik erwuchs hier eine gewaltige geoökonomische Symbiose. China produzierte billig Flatscreens und iPhones; Amerika kaufte sie – aber notwendigerweise auf Pump, denn seit Reagan wurden Löhne gesenkt und Sozialmaßnahmen gestrichen. Und zwar mit jener Kreditkarte, die die Pekinger KP mit dem gigantischen Ankauf von US-Staatsanleihen vorher selbst ausgestellt hatte. „Chimerika“ wurde somit zum Motor der Weltkonjunktur; der kreditbasierte Konsum zur Wachstumsnahrung des globalen Kapitals. Das Akkumulationsproblem schien vorläufig gelöst. Doch hier gilt das Gleiche wie für amerikanische Immobilienbesitzer: Werden Überkapazitäten des Kapitals mit Schulden realisiert, entsteht ein Kartenhaus, das früher oder später zusammenklappt. Angesichts der Finanzkrise und der nun restlos überschuldeten privaten und öffentlichen Haushalte der USA erscheint Haug die „Wachstums­droge Chimerika“ als Auslaufmodell und das marktliberale Konzept in „seiner geschichtlichen Produktivität erschöpft“.

Der neoliberale Leviathan

Für die Zukunft offenbare sich somit ein Kreuzweg, an dem sich der interventionistisch-autoritäre Kapitalismus chinesischer Prägung und die Idee einer Postwachstums-Ökonomie gegenüberstehen. Wie sich solch ein Modell, das nicht nur ökologisch nachhaltig, sondern auch frei vom Problem der Überakkumulation wäre, konkret realisieren ließe, darüber schweigt Haugs lesenswerte Studie. Entsprechend dem Prinzips Hoffnung kann er aber immerhin einige Lichtblicke erkennen. Sei es die Energiewende, das Aufkommen neuer sozialer Bewegungen oder die Proteste chinesischer Wanderarbeiter. Nur ließe sich die Sicht eben auch in die andere Richtung lenken. So sind nämlich nicht nur die Occupy-Demonstranten mit der letzten Herbstsonne aus den Innenstädten weitestgehend verschwunden, sondern da wird in Griechenland, Spanien und Italien auch gerade nach Belieben gekürzt, privatisiert und dereguliert, sodass der neoliberale Leviathan fast stärker scheint denn je. Oder mit den Worten des Philosophen Slavoj Žižek: „Der Lichtblick am Ende des Tunnels könnte auch immer der entgegenkommende Zug sein.“

Hightech-Kapitalismus in der Großen Krise Wolfgang Fritz Haug
Argument 2012, 365 S., 19,50

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