Vor fast 40 Jahren, 1975, veröffentlichte sie Le Rire de la Méduse und lieferte damit einen der wichtigsten Beiträge zur feministischen Philosophie. Erst seit kurzem liegt Hélène Cixous’ Lachen der Medusa auch auf Deutsch vor, wie ihr neuestes Buch über den französischen Philosophen Jacques Derrida ist der Text im Passagen-Verlag erschienen. Zeit für eine Bilanz, Madame Cixous?
Der Freitag: In einem Interview sagen Sie, Medusa wäre heute Teil der Queer-Bewegung, weil sie eben schon immer buchstäblich queer, weiblich wie männlich, gewesen sei.
Hélène Cixous: Wie alle großen Mythen bleibt Medusa aktuell. Sie ist eine ungemein starke und gleichzeitig unterdrückte Figur. Es bleibt natürlich die Frage: Wo kommen die Mythen her? Woher wissen sie alles über uns, bevor wir es selbst tun? Denn sie haben ja keinen Autor, sie sind einfach da. Alle Helden und Heldinnen der griechisch-römischen Mythologie sind Muster unseres eigenen Unbewussten. Und selbst Sigmund Freud war gegenüber Medusa etwas schüchtern. Er hat ihr nur eine halbe Seite Aufmerksamkeit geschenkt, obwohl er genau erkannte, wie wichtig die Figur ist. Oft wird ein kleines Detail vergessen. Als Medusa geköpft wird, ist sie schwanger. Sie ist also alles: phallisch, fruchtbar, schwanger. Das macht sie für den durchschnittlichen Mann bis heute so schwer erträglich.
In dem Text etablierten Sie die „Écriture féminine“, einen spezifisch weiblichen Modus des Schreibens. Waren Sie überrascht, wie oft Ihnen danach vorgeworfen wurde, dass Sie essenzialistisch argumentierten, also eine Art Weiblichkeit behaupteten?
Anfangs war ich so überrascht wie empört, weil es falsch ist. Dann habe ich die Situation analysiert und erkannt, dass der Text einfach extrem rezipiert wurde. Er berührte die Leute. Entweder dort, wo sie es wollten, oder dort, wo sie es hassten. In jedem Fall erfolgte eine Reaktion. Das zeigte mir, dass Medusa sehr lebendig ist. Diejenigen, die von Essenzialismus sprachen, den ich sehr sorgsam vermieden habe, können den Text nicht gelesen haben. Viele Leute haben Angst und weisen bestimmte Texte sofort ab. Es ist wie eine Phobie. Und das bezieht sich nicht nur auf Medusa, sondern auch auf die Dekonstruktion. Allein bei dem Wort holen viele Leute bereits das Messer raus.
Für die Bewegung der Dekonstruktion war Martin Heidegger zentral. Heute ist man sich in Deutschland weitestgehend einig, dass sein Antisemitismus kein Unfall, sondern Fixpunkt seines Denkens war. Wie sehen Sie das?
Es ist problematisch. Einerseits hat er der Menschheit so viel zum Denken geliefert, andererseits hatte er dabei gleichzeitig Gift im Gepäck. Mit dieser Mischung müssen wir versuchen umzugehen. Das tut natürlich weh. Was jedoch nicht wehtut, ist die Wahrheit. Mehr zu wissen, ist immer eine Art bitterer Genuss. Am Théâtre du Soleil machen wir gerade Macbeth. Dort geht es ja darum, wie man plötzlich zum Mörder wird. Das ist eine Frage, die uns alle angeht.
Jacques Derrida, den Dekonstruktivisten, und Sie verband eine lebenslange Freundschaft. Beide haben Sie auch darüber geschrieben, Sie in Ihrem neuen Buch „Insister“. Was meint dieser Titel?
„Insister“ sieht zunächst sehr unschuldig aus, als ob es einfach „insistieren“ meint. Es gibt hier jedoch eine Art Geistersignifikanten, nämlich die „inner sister“, die innere Schwester. Bei Derridas H. C. pour la vie, c’est à dire ist es ähnlich. Wichtig ist, dass Derrida nur die Initialen H. C. verwendete. Das Geheimnis ist hier, dass sich das „C.“ im Französischen wie „c’est“ oder „sait“ spricht. Somit kann es entweder „H. ist für das Leben“ oder „H. weiß um das Leben“ bedeuten. Man muss also vorsichtig sein. Wie immer bei Derrida.
Was verstehen Sie unter Freundschaft? Muss man sie im Register des Gleichen oder des Anderen denken?
Es geht natürlich um beides. James Joyce hätte gesagt: um den gleichen Anderen. Man muss den Anderen anerkennen. Und das geht nur, wenn es in dir einen Teil gibt, der sich mit dem Anderen identifiziert. Es ist ein kleines Stück Gleichheit, das dir erlaubt, dich der Andersheit des Anderen zu nähern. Gleichzeitig muss man den Anderen aber in seiner Andersartigkeit belassen, jedoch nicht im Sinne eines bloßen Gegensatzes, sondern einer Möglichkeit, um zusammenzukommen und sich auszutauschen. Denn letztlich gibt es keine Differenz zwischen Freundschaft und Liebe. Es ist die griechische Philia, die freundschaftliche Beziehung.
Dennoch wird nicht nur in der Philosophie, sondern auch in der Kunst vor allem die Liebe verhandelt, die Freundschaft weniger.
Wahrscheinlich weil sie seltener ist als Liebe. Was wir Freundschaft nennen, ist jene Art Liebe, die nicht institutionalisiert ist und von der man nicht weiß, ob sie eine sexuelle Dimension hat. Wenn Michel de Montaigne über Freundschaft spricht, beschreibt er die reife Liebe. Er verkehrte zwar nicht sexuell mit seinem Richterkollegen Étienne de La Boétie, aber einfach deshalb, weil das in seiner Zeit tabuisiert war. Dennoch ist diese Beziehung für ihn so einzigartig, dass sie selbst über jene eheliche Liebe hinausgeht, die er mit seiner Frau teilt. Über diesen Fall denkt man generell zu wenig nach: absolute Liebe zwischen zwei verheirateten Männern. Was Montaigne sagt, ist schließlich das Axiom der perfekten Liebe: „Weil er er war, weil ich ich war.“ Sie hat keinen Grund, sie ist einfach.
In „Insister“ gibt es eine Unzahl wundervoller Sätze. Beispielsweise: „Ich lese dich, du liest dich an mich.“ Gibt es so etwas wie intellektuelle Zärtlichkeit?
Das wichtige Wort ist hier lesen. Eine Handlung, über die man immer wieder neu nachdenken muss. Lesen ist ein Akt der Liebe. Man kann nicht ohne Liebe lesen. Weist man den Text ab, kommt er dir nicht näher. Man muss gastfreundlich zu ihm sein. Und wenn ich in Insister darauf anspiele, dann deshalb, weil unsere Beziehung immer untrennbar mit dem Akt des Lesens verbunden ist. Und natürlich auch damit, den anderen wie ein Buch zu lesen, was wiederum eine Liebesübung ist. In dem Sinne: Du bist ein Buch, und wenn ich dich liebe, muss ich jede Zeile lesen.
Derrida sagte immer, er läuft mit dem Tod wie ein Motor mit Benzin. Er lebte „à mort“, Sie hingegen, schreiben Sie, „à rêve“, mit dem Traum. War das der große Unterschied zwischen Ihnen beiden?
Es war einer von 2.712 Unterschieden. Aber es stimmt. Derrida war vom Gedanken des Todes begleitet. Dadurch spürte ich eine Präsenz der Absenz in meinem Leben, jeden Tag. Dieser Gedanke des Todes, diese Melancholie verursachte viel Nachdenken. Derrida sagte immer, dass ich auf der Seite des Lebens und er auf der des Todes stehe. Ich habe ihn oft gefragt: Warum sollte ich auf der Seite des Lebens stehen? Bist du sicher? Er antwortete einfach: ja. Darüber konnte nicht diskutiert werden. Es war für ihn eine Art Wahrheit, der er gefolgt ist
„Philosophie ist Musik, Musik ist Philosophie“, hat Thomas Bernhard gesagt. Man könnte meinen, das wäre direkt auf Ihre Texte bezogen. Beim Lesen Ihrer Bücher habe ich deshalb auch immer gedacht: Ich wünschte mir ein Gespräch zwischen Hélène Cixous und Thomas Bernhard.
Das hätte ich mir auch gewünscht!
Wie hätte das ausgesehen?
Es hat ja keinen Sinn, Leute zu treffen, die man mag. Die müssen unberührt bleiben. Derrida hasste Bernhard. Er sagte: Ich habe eine Seite gelesen, das reicht. Ich kenne die Maschine, es gibt keine Überraschung. Und in gewisser Hinsicht stimmt das ja auch. Aber es gibt eben auch Dinge bei Bernhard, die nicht vorhersehbar sind und die ich sehr liebe. Beispielsweise seine Aufnahmefähigkeit für so offenkundigen Hass. Manchmal wünschte ich mir, ich wäre leichtherzig genug, ebenfalls solche kindischen Beschimpfungen zu verfassen. Der Satz, den Sie zitiert haben, ist jedoch zugleich falsch und richtig. Er stimmt zwar, geht aber nicht weit genug. Philosophie ist Musik und noch viel mehr. Besser: Philosophie ist nicht Musik, sie braucht Musik.
Dabei gibt es in Bernhards Werk eigentlich nur zwei Frauen, die nicht schlecht wegkommen.
Das ist mir egal. Für mich ist er ein Genie, ein Akrobat. Zudem überaus witzig. Dennoch könnte ich nicht allein mit Bernhard leben, nach zwei Tagen würde ich die Tür zuschlagen. Mit Shakespeare ginge es, denn dort gibt es alles.
Hélène Cixous, geboren 1937 in Oran, Algerien, ist Philosophin, Schriftstellerin, Theaterautorin. Sie war Mitbegründerin der Reform-Universität Vincennes, wo sie das erste feministische Studienzentrum Europas aufbaute. Bis heute engagiert sie sich auch politisch, aktuell gegen die Diskriminierung der Roma
Insister. An Jacques Derrida Hélène Cixous Passagen-Verlag 2014, 128 S., 19,90€
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