Linke Reflexe

Empörung Martenstein hat wieder neokolonialistisch rumgequengelt und alle empören sich brav mit. Müssen wir über jedes reaktionäre Stöckchen springen, das uns hingehalten wird?
Ausgabe 42/2015
Harald Martenstein kennt Schlimmeres als Kolonialismus
Harald Martenstein kennt Schlimmeres als Kolonialismus

Foto: imago/snapshot

Es gibt Wahrheiten, die müssen ausgesprochen werden, gerade die unangenehmen, klar. Die muss man den sogenannten Gutmenschen vor den Latz knallen. Dann drehen die natürlich wieder durch, aber es nützt ja nix. Denn die Wahrheit, die muss, wie gesagt, raus. Der Harald, der sieht das womöglich auch so. In seiner Kolumne holte Martenstein zum Thema der Flüchtlingskrise kürzlich aus, dass man „Millionen von Leben retten“ würde, „indem man gewisse Länder wieder zu Kolonien macht, zum Beispiel Nigeria, Syrien oder Somalia“, weil der Kolonialismus zwar schon irgendwie schlimm gewesen sei, alles Darauffolgende aber vermeintlich noch schlimmer. Da war die Empörung ruck, zuck da. Das Gute ist: So eine Wahrheit, die erst mal draußen ist, freut auch die Redaktion. Klicks als Kollateralnutzen. Das Zeit-Magazin bastelte für das Zitat ein griffiges Social-Media-Bildchen, dann wurde auf Twitter und Facebook linksseitig geklickt, geteilt und protestiert. Allein, man hätte sich die Empörung vielleicht einfach sparen sollen.

Aber, so ließe sich nun einwenden, man muss doch solchem kolumnistisch kostümierten Neokolonialismus laut widersprechen. Naming und shaming eben. Generell wäre darauf zu antworten: ja, selbstverständlich. Überall, wo Ressentiments, Rassismus, Antisemitismus, Homophobie und Antifeminismus in Stellung gebracht werden, muss laute Widerrede erfolgen. Doch in bestimmten Fällen, sei es bei Martenstein oder jedem anderen der üblichen Verdächtigen, der, wie es Barbara Kirchner einst im People-Magazin konkret formulierte, „dieses Quengeln in Essays gießt, die die halbe Brillennation liest“, also Fleischhauer, Matussek, Kelle und Co., ist kritisches Beschweigen eventuell auch mal eine Option. Denn ganz abgesehen davon, dass verschlagwortetes Aufschreien ja oft auch über routinierte Selbstvergewisserung nicht hinauskommt, gehört die Empörung schon längst zum inkorporierten Bestandteil eines aufmerksamkeitsökonomischen Geschäftsmodells.

Das funktioniert ungefähr so: Man schüttet oben ein paar Ressentiments in die Diskursmaschine, wartet, dass diese kräftig heiß läuft und rechtfertigt sich am Ende damit, dass das, was unten rauskommt, ja dann doch eine unbedingt notwendige „Debatte“ provoziert hätte. Und, schwuppdiwupp, kann man aus letzterer dann noch mindestens zwei, drei weitere Artikel destillieren, die einen Kommentar zu den Kommentaren des ursprünglichen Kommentars abgeben. Exakt dieses Prinzip konnte man im Frühjahr auch bei der von der Welt angezettelten Feminismusdebatte beobachten. Die intellektuelle Frechheit derselbigen bestand nämlich nicht nur in der These, dass der Feminismus „eklig“ sei, sondern mindestens ebenso in ihrer impertinent kalkulierten Machart.

Anstatt also nur reaktiv irgendwelchen Buzzwords hinterherzuhecheln, sollte die Linke auch mal wieder selbst mit Vorhand spielen. Und dabei muss man vielleicht nicht einmal große Visionen einfordern. Es würde schon reichen, wenn man nicht über jedes reaktionäre Stöckchen springt, das einem hingehalten wird. Statt sich also wöchentlich an Martenstein und Kollegen abzuarbeiten, könnte die Linke etwa einen Kontrast zu ihrem strukturellen Miserabilismus schaffen, also neben den neoliberalen Verfallsgeschichten auch mal eine positive Zukunftserzählung ins politische Portfolio aufnehmen. Dass dieser Text dadurch natürlich zum performativen Widerspruch wird, macht die Sache wiederum nur noch dringlicher.

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