Philosophie der Flucht

Vertiefung Giorgio Agambens Homo sacer ist die Figur der Stunde. Richtig schlau wird man aber erst bei einem anderen Denker
Ausgabe 35/2015
Der ausgestoßene Mensch bewohnt ein Niemandsland, hier vor Ventimiglia, Italien
Der ausgestoßene Mensch bewohnt ein Niemandsland, hier vor Ventimiglia, Italien

Foto: Valery Hache/AFP/Getty Images

Wer dieser Tage nach Lampedusa, Calais oder Kos, an die mazedonische oder ungarische Grenze oder auch nach Dresden, Freital oder Heidenau blickt, dem wird schwerfallen, die Beschwörung vom „Europa der Werte“ nicht als leere Phrase, ja womöglich sogar als bloßen Zynismus zu begreifen. Überladene Boote, die wöchentlich im Mittelmeer kentern; schwer ausgerüstete Polizisten, die selbst auf Familien mit Kindern einprügeln; randalierende Rechtsextreme, die Asylunterkünfte attackieren: All das gehört für Flüchtlinge zur europäischen Realität. Vor diesem Hintergrund scheint es kaum verwunderlich, dass momentan eine Theorie an Dringlichkeit gewinnt, die vom vielleicht radikalsten und dunkelsten Denker der Gegenwart formuliert wurde, von Giorgio Agamben. Seit vielen Jahren verfolgt Agamben ein mehrbändiges Projekt, das um zwei miteinander verklammerte Begriffe kreist, die heute brisanter denn je wirken: den Homo sacer und den Ausnahmezustand.

Agamben ist kein unproblematischer Theoretiker, das sei vorausgeschickt. Er bedient mindestens implizit antiamerikanische Ressentiments, und er betreibt, wie es der Soziologe Oliver Marchart einmal formulierte, einen „Theorieextremismus“, der in seiner Holzschnittartigkeit bisweilen schwer zu ertragen ist. Da werden dann disparate Texte aus Antike, Mittelalter und Moderne so lange mit einer fatalistischen Zivilisationskritik verrührt, bis am Ende eine geradezu apokalyptische Geschichtsphilosophie herauskommt.

Dennoch kann man seinen Überlegungen zur Figur des Homo sacer und zum Wesen des Ausnahmezustands mit Gewinn folgen; sie können helfen, die aktuelle Flüchtlingsdebatte in ihrer Tiefe zu verstehen. Was ist mit dem Homo sacer gemeint? Ursprünglich handelt es sich um eine ambivalente, komplizierte Rechtsfigur der römischen Antike. Wurde einer Person – meist aufgrund eines begangenen Eidbruchs – dieser Status zugesprochen, so konnte sie fortan straffrei getötet, aber nicht geopfert werden. Einerseits vogelfrei, andererseits heilig: Einer Schar von Gelehrten hat diese eigentümliche Kombination erhebliches Kopfzerbrechen bereitet, firmierte der Heilige doch gemeinhin nicht als Objekt straffreier Tötung, sondern im Gegenteil als unantastbar. Dabei ist die Problematik schon in seinem Namen angelegt; sacer kann im Lateinischen sowohl heilig als auch verbannt oder ausgestoßen heißen. Dieser Befund ist für Agamben nicht einfach eine religions- oder rechtshistorische Anomalie, sondern schlicht das Fundament des Politischen. Er folgt nämlich dem Rechtstheoretiker Carl Schmitt in der Einsicht, dass immer derjenige souverän ist, der über den Ausnahmezustand entscheidet, der also bestimmen kann, wann Gesetze buchstäblich ausgesetzt werden. Und dies zeige sich eben idealtypisch am Homo sacer.

Rechtsfreie Räume

„Souverän ist die Sphäre“, schreibt Agamben in seinem 1995 im Original und 2002 auf Deutsch erschienenen Buch Homo sacer, „in der man töten kann, ohne einen Mord zu begehen und ohne ein Opfer zu zelebrieren, und heilig, das heißt tötbar, aber nicht opferbar, ist das Leben, das in diese Sphäre eingeschlossen ist.“ Dementsprechend sei die Heiligkeit in diesem Kontext vordergründig nicht religiös zu deuten, sie verweise vielmehr auf „die ursprüngliche Form der Einbeziehung des nackten Lebens in die juridisch-politische Ordnung, und das Syntagma Homo sacer benennt etwas wie die ursprüngliche ‚politische‘ Beziehung, das heißt das Leben, insofern es in der einschließenden Ausschließung der souveränen Ausnahme als Bezugsgröße liegt“.

Das klingt kompliziert, bezieht sich aber faktisch auf eine Situation, die uns vertraut scheint: die permanente Ausweitung des Ausnahmezustands. Wer an den war on terror, an die Aussetzung verbriefter Bürgerrechte, an die geheimdienstliche Massenüberwachung oder den Drohnenkrieg denkt, hat eine Reihe von Beispielen, die die zunehmende Schaffung rechtsfreier Räume bezeugen. Und genau darin erkennt Agamben ein politisches Paradigma der Moderne. Der permanente Ausnahmezustand, also „der Versuch, die Ausnahme in die Rechtsordnung selbst einzuschließen, und zwar durch die Schaffung einer Zone der Unbestimmtheit, in der Tatsache und Recht zusammenfallen“, wird zunehmend zur Regel, die Ausnahme zur Norm.

Immer mehr, konstatiert Agamben in seinem Buch Ausnahmezustand von 2003, entsteht ein „Niemandsland zwischen öffentlichem Recht und politischer Faktizität, zwischen Rechtsordnung und Leben“.

Der Homo sacer ist der exemplarische Bewohner dieses Niemandslands. Er, dessen Existenz aller Rechte beraubt und auf das „nackte Leben“ reduziert ist, bildet den Körper, an dem sich der Ausnahmezustand und damit auch die Souveränität manifestiert. Man erkennt leicht im Flüchtling seinen zeitgenössischen Wiedergänger. Noch deutlicher erkennt ihn, wer bedenkt, dass Agamben das „Lager“ als exemplarischen Raum des Homo sacer ausgemacht hat, offenbare sich dieses doch als „Materialisierung des Ausnahmezustands“. Die katastrophalen Zustände in den Flüchtlingscamps von Italien über Griechenland bis in den Libanon und in die Türkei führen plastisch vor Augen, was die Reduktion der Existenz auf das „nackte Leben“ bedeuten mag.

Und auch in Deutschland bekommt man ein Vorgefühl für diese Situation. Ein Arzt, der freiwillig in der Dresdner Zeltstadt für Flüchtlinge arbeitet, sagte der Zeit: „Im Camp wird unser Grundgesetz nicht eingehalten: das Menschenrecht auf Gesundheit. Das Recht auf Privatsphäre. Die Würde des Menschen.“

Aber was folgt daraus? Kann man mit Agamben zu einer Ethik oder Praxis des Flüchtlings kommen? Leider nein. Das liegt vor allem daran, dass er seine Theorie doppelt überdehnt. Denn obschon er durchaus die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Vernichtungslager betont, nutzt er den Begriff des Lagers am Ende so formalistisch, dass kaum noch unterscheidbar ist, was in ihnen passiert. Auschwitz und Guantánamo werden bei ihm zum mehr oder minder gleichen Phänomen.

Andererseits wird der Begriff unscharf, bei Agamben sind wir alle ein wenig Flüchtling. „Wenn es heute keine vorbestimmbare Figur des Homo sacer mehr gibt“, schreibt der Philosoph, „so vielleicht deshalb, weil wir alle virtuell Homines sacri sind.“ Gerade mit Blick auf die katastrophale Situation, der Flüchtlinge häufig ausgesetzt sind, scheint auch diese Pauschalisierung unhaltbar. Deshalb kann sich der italienische Philosoph in seinem Blick auf Möglichkeiten des Widerstands letzten Endes auch nur in raunende Anarcho-Esoterik flüchten.

Man tut gut, eine Unterscheidung aufzugreifen, die der ebenso bekannte französische Philosoph Jacques Rancière in seinem 2002 auf Deutsch erschienenen Buch Das Unvernehmen gemacht hat. Ich meine die Unterscheidung von Politik und Polizei. Was wir gemeinhin unter dem erstgenannten Begriff verstehen, verbucht Rancière unter zweitgenanntem. Mit Polizei spielt er nicht nur auf eine bewaffnete Staatsmacht an, sondern vor allem auch auf das, was bis ins 19. Jahrhundert policey hieß und die Gesamtheit gesellschaftlicher Verwaltungswissenschaften meinte. Polizei meint so verstanden die Herrschaft des Einvernehmens, die konsensuelle Verwaltung des Bestehenden durch die, die bereits einen Anteil am Sozialen haben.

Anteil der Anteilslosen

Politik ist das gerade nicht, sie entsteht nach Rancière eigentlich erst dann, wenn statt Einvernehmen ein „Unvernehmen“ auftaucht, ein Dissens gegenüber der hegemonialen Macht formuliert wird. Und das passiert wiederum dann, wenn diejenigen, die vorher nicht gehört wurden, eine Stimme und einen Ort bekommen. Politik „lässt sehen, was keinen Ort hatte, gesehen zu werden, lässt eine Rede hören, die nur als Lärm gehört wurde“. Nach Rancière gibt es also Politik, „wenn es einen Anteil der Anteilslosen, einen Teil oder eine Partei der Armen gibt. Es gibt nicht einfach deshalb Politik, weil die Armen den Reichen gegenüberstehen und sich ihnen widersetzen. Man muss eher sagen, dass es die Politik ist – das heißt die Unterbrechung der einfachen Wirkungen der Herrschaft der Reichen –, die die Armen als Entität zum Dasein bringt.“

Wenn Europa heute also mit einer Situation des Ausnahmezustands konfrontiert ist, in der geflüchtete Menschen auf ihr nacktes Leben reduziert werden, dann ist es höchste Zeit, diesen Anteilslosen ihren Anteil zukommen zu lassen. Oder anders formuliert: Es braucht nicht mehr Polizei, es braucht mehr Politik.

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