Die Angst kriecht in den Körper, Pore für Pore, Tag für Tag. Die Angst vor den Cops, vor den Gangs, vor den Lehrern. Und diese Angst wandelt sich irgendwann in Wut, wird zum Panzer gegen die Verletzlichkeit: Der Leib rebelliert, schlägt zurück, wird selbst zum Täter. Das ist die Dialektik, die Ta-Nehisi Coates in seinem Buch Zwischen mir und der Welt beschreibt. Der 40-jährige Journalist, der als Reporter beim renommierten The Atlantic arbeitet, löste damit im vergangenen Jahr in den USA eine Debatte über den amerikanischen Rassismus aus. Eine Debatte, die, auch wegen der anstehenden Präsidentschaftswahlen, bis heute anhält.
Das hat vor allem zwei Gründe. Zum einen nämlich bietet Coates in seinem Buch, das nun auch auf Deutsch erschienen ist, keine einfache Versöhnungserzählung an. Dafür sei das Unrecht der Sklaverei zu groß gewesen, ihr heutiges Erbe noch zu gewaltig. Schon als Jugendlicher konnte Coates deshalb mit der pastoralen Friedensrhetorik Martin Luther Kings weit weniger anfangen als mit dem unversöhnlichen Zorn eines Malcom X oder dem revolutionären Aufruhr der Black Panther Party. „Ich fühlte mich zu ihren Schusswaffen hingezogen“, schreibt Coates, „weil sie aufrichtig wirkten.“ Unaufrichtig sei hingegen die klassische Bürgerrechtsbewegung gewesen, die nur von der Integration redete, sich in Gospels und Spirituals flüchtete und in ihrer Gewaltlosigkeit die Knüppel und das Tränengas wie eine „Erlösung“ hinnahm.
Der in Baltimore aufgewachsene Journalist lernte, selbst nach den Regeln der Straße zu spielen, wollte aber nicht vollends zum Täter werden, nicht zurückschießen. Er studierte in Howard, der traditionsreichen afroamerikanischen Universität in Washington D.C., und fand zum Schreiben. Dennoch ist sein Blick dadurch nicht versöhnlicher geworden. Im Gegenteil. Es ist nicht nur seine Forderung nach Reparationen für die Sklaverei, sondern es sind auch Sätze wie dieser, die das US-amerikanische Selbstverständnis als land of the free ins Mark getroffen haben: „Das ‚weiße Amerika‘ ist ein Syndikat, errichtet zum Schutz ihrer exklusiven Macht, unsere Körper zu beherrschen und zu kontrollieren.“ Diese Unerbittlichkeit hat auch mit dem zweiten Aspekt seines Texts zu tun. Denn Coates beschreibt den alltäglichen Rassismus nicht einfach als soziale und ökonomische Diskriminierung, sondern als permanente Verfügbarkeit über den schwarzen Körper.
Jene Gewalt, die Trayvon Martin, Eric Garner oder Michael Brown das Leben kostete. Unbewaffnete Männer, die von Polizisten oder Bürgerwehren getötet wurden. Deshalb interessiert Coates auch kein Konzept, sondern die leibliche Materialität des Unrechts. Er schreibt: „Unsere ganze Begrifflichkeit – race relations, racial chasm, racial justice, racial profiling, white privilege, sogar white supremacy – dient nur dazu, zu verschleiern, dass Rassismus eine zutiefst körperliche Erfahrung ist, dass er das Hirn erschüttert, die Atemwege blockiert, Muskeln zerreißt, Organe entfernt, Knochen bricht, Zähne zerschlägt.“
Keine Versöhnung
Als Schwarzer müsse man sich bewusst machen, dass „die Soziologie, die Geschichte, die Wirtschaft, die Tabellen und Statistiken, die Regressionen allesamt mit Wucht auf deinem Körper landen“. Daher fordert er keine falsche Versöhnung, sondern den fortwährenden Kampf. Gewaltlos, aber konsequent. Und zwar so lange, bis schwarze Körper nicht mehr systematisch weggesperrt, drangsaliert oder getötet werden.
Coates’ Essay, der auch deshalb so eindringlich ist, weil er ihn in Form eines Briefs an seinen 15-jährigen Sohn geschrieben hat, ist einerseits sehr amerikanisch. In dem Sinn, dass er stark in der amerikanischen Geschichte, von der Sklaverei bis zur Rassentrennung, verankert bleibt. Doch wenn Coates die Unterwerfung der Körper als vorderstes Ziel des Rassismus beschreibt, erzählt er ungewollt auch von europäischen Realitäten.
Nicht nur, weil das moderne Europa ja in ähnlicher Weise auf den Pfeilern der Ausbeutung nichtweißer Körper gebaut wurde. Also auf den geschundenen, geschändeten und gequälten Sklaven der Kolonien, ebenso auf der Ausbeutung jener „Gastarbeiter“, die anfangs oft genug in Baracken gepfercht wurden und die Drecksarbeit zu machen hatten. Sondern auch, weil es jenseits des Atlantiks ebenfalls die Unterwerfung der Körper ist, in denen sich der heutige Rassismus am deutlichsten zeigt.
Das ist einerseits allzu evident. Man denke an den NSU, der jahrelang mordend durchs Land ziehen konnte; an Oury Jalloh, der in seiner Polizeizelle verbrannte; an Alberto Adriano, der von Neonazis zu Tode geprügelt wurde. Andererseits ist es nicht evident. Denn in gegenwärtigen Diskursen firmiert Rassismus oftmals „nur“ noch als Frage von Sprache, Bildern und Zeichen, als Gegenstand von Karikaturen, Begriffen oder Kleidungsstücken. Kurz: als Problem innerhalb der symbolischen Ordnung.
Deshalb ist bisweilen in Vergessenheit geraten, was Coates ebenso intensiv beschreibt. Rassismus heißt Kontrolle über Körper, nicht nur symbolisch, sondern buchstäblich. Mehr noch: In gewisser Hinsicht folgt er sogar der Logik des Terrors. Wie dieser zielt er zum einen nicht nur auf das einzelne Individuum, sondern auf dessen Umwelt. Er erzeugt eine Atmosphäre der omnipräsenten Angst, die dafür sorgt, dass bestimmte Orte gar nicht mehr betreten werden. Zum anderen wirkt er durch seine Unvorhersehbarkeit. Was machen die Polizisten mit dir, wenn sie dich auf die Wache nehmen? Schreien die Betrunkenen einem nur hinterher, oder treten sie dir gleich den Kiefer ein? Und der Körper gerät dabei zum Aufschreibesystem dieser Angst, er speichert die Nervosität, die flache Atmung, die Panikattacken – und hält sie bisweilen ein Leben lang unter Verschluss.
Hierzulande hatte das kollektive Gedächtnis die Bilder aus Mölln, Solingen oder Rostock-Lichtenhagen schon fast verdrängt. Molotowcocktails werfende Neonazis, die unter dem Applaus der Anwohner um brennende Häuser tanzen, während die Polizei wenig tut – das war alles lange vor dem Sommermärchen, vor dem „entspannten Patriotismus“ und vor der Willkommenskultur. Dachte man. Als im vergangenen Jahr ein Brandsatz in ein Hamelner Flüchtlingsheim geschleudert wurde, landete dieser unter dem Bett eines Kindes. Es war Glück, dass dieses ausnahmsweise nebenan bei seiner Mutter schlief. Und auch die Mobs in Clausnitz oder Bautzen entdecken die Logik des rassistischen Terrors wieder neu. Hier vollzieht das selbst ernannte „Volk“ die Fortsetzung der Politik mit sächsischen Mitteln: einschüchtern, bedrohen, im Zweifelsfall anzünden.
Kontrolle der Körper
Der Rassismus hat die rein symbolischen Dimensionen längst verlassen. Es geht nicht mehr um Kränkung, sondern um die Verletzung, ja die potenzielle Auslöschung des nicht weißen Körpers. Doch reicht dieses Problem in seinen Grundsätzen tiefer. Man muss nur einen Blick auf Darstellungslogiken der Flüchtlingskrise werfen. Der gleichermaßen „normale“ wie souveräne Körper von Nichtweißen existiert nur in Ausnahmefällen. „Der Flüchtling“ kommt meist nur als Kollektivsingular, sein Körper lediglich im Plural vor.
Entweder als bemitleidenswertes Opfer fremder Verhältnisse, als geopolitische Manövriermasse, als campierendes Lumpenproletariat. Oder aber als aggressiver Mob, als kollektiver Täter. Wie etwa in der Kölner Silvesternacht. Was keineswegs heißt, dass an diesen Taten irgendetwas zu relativeren, kleinzureden wäre. Dennoch offenbart sich hier ein Missverhältnis. Während die sexualisierte Gewalt in Köln – zu Recht – wochenlange Aufmerksamkeit erlangte, läuft die Bedrohung des nicht weißen Körpers allzu oft unter ferner liefen. Als 2007 Neonazis etwa eine Gruppe Inder durch Müggeln jagten und diese fast lynchten, sprach der damalige sächsische Innenminister der CDU von einem Gerangel, das sich eben „hochgeschaukelt“ habe.
Die Nacktheit der schwarzen Körper, so sagt Coates, „ist kein Irrtum“, sondern „die angestrebte Folge politischer Entscheidungen“. Entscheidungen, die Gewalt zulassen und Gegengewalt gebären. Entscheidungen, die den sozialen Frieden mancherorts in nur wenigen Stunden aufkündigen können. So weit ist es hierzulande noch nicht. Gleichwohl sollten wir die Attacken auf Asylunterkünfte, allein über 1.000 im vergangenen Jahr, endlich als das benennen, was sie sind: alltäglicher Terror.
Info
Zwischen mir und der Welt Ta-Nehisi Coates Hanser 2016, 240 S., 19,90 €
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