"Sport sollte man abschaffen"

Im Gespräch Terry Eagleton über böse Mächte des Kapitalismus, den Lyriker Karl Marx und warum Fußball heute das Crack des Volks ist
Ausgabe 21/2013
Der Mann, von dem letztes Jahr auf Deutsch das Buch „Warum Marx recht hat“ erschien
Der Mann, von dem letztes Jahr auf Deutsch das Buch „Warum Marx recht hat“ erschien

Foto: Pascal Saez/SIPA Press /ddp

Der Freitag: Mr Eagleton, Sie sind einer der einflussreichsten britischen Intellektuellen und Sie sind bekennender Marxist. Was war gut an Margaret Thatcher?

Terry Eagleton: Sie hat nicht sonderlich viel Zeit auf das britische Establishment verschwendet. Margaret Thatcher war keine Traditionalistin und keine radikale Konservative, sondern sie repräsentierte eher eine neue Form des Utilitarismus. In den USA hat Ronald Reagan ja dasselbe gemacht. Der Kapitalismus war damals einfach in einem Stadium, wo er die Transformation zum Finanzkapitalismus brauchte. Thatcher hat das gewissermaßen begleitet. Deshalb sollten wir auch nicht zu viel Aufhebens um sie machen.

Elfriede Jelinek hat mit ihrem neuen Buch Rein Gold gerade Richard Wagners Ring als Parabel auf die Finanzkrise interpretiert. Auch Shakespeare oder Goethe erscheinen bisweilen ja erstaunlich aktuell.

Klassiker lesen ist immer gut. Marx und Engels haben das ja auch schon getan. Weil sie gesehen haben, dass es dort ein großes Maß an Radikalität gibt. Klassische Literatur ist eben offen für eine Re-Lektüre, auch für eine radikale.

Marx selbst verfasste ja auch Gedichte und den Romantorso Skorpion und Felix.

Das waren Jugendwerke. Ich würde nicht sagen, dass Marx ein großer Dichter war, aber die Tatsache, dass er einer war, ist schon interessant. Kunst bedeutete ihm viel. Auch in Bezug auf den Stil seines Werks, um den er sich stets viel Gedanken gemacht hat. Schreiben war für ihn nicht nur eine notwendig funktionale Sache, sondern hatte einen Wert für sich.

Sergej Eisenstein hatte den Plan, Marx’ Kapital zu verfilmen. Wenn man so will, scheinen also auch Marx’ theoretische Schriften einen poetischen Kern zu besitzen.

Ja, das ist eine interessante Sache. Wobei ich nicht weiß, ob der Film derart aufregend wie Django Unchained geworden wäre. Eine von vielen Facetten, in denen sich Marx als radikaler Romantiker offenbart, war sein großer Respekt vor der künstlerischen Einbildungskraft. Er glaubte, dass diese die Gesellschaft demaskieren kann. Kunst war auch für Marx die Kultivierung einer Alternative.

Seit der Finanzkrise genießt sein Werk eine gewisse Renaissance. Sein jüngster Biograf Jonathan Sperber sagt jedoch, dass es sich dabei nur um „Marxologie“, also um eine poststrukturalistische Spielart handelt. Stimmt das?

Ich habe Sperbers Buch gerade für Harper’s Magazine besprochen. Es ist nicht schlecht, aber man wundert sich schon, warum Sperber so viel Zeit auf eine Person verwendet, von der er glaubt, dass sie uns nichts mehr zu sagen hat.

Aber zur „Marxologie“: Natürlich hat Marx bei Occupy weder in theoretischer Hinsicht eine zentrale Rolle gespielt, noch haben dort viele Marxisten mitgemacht. Aber das ist oft so, da viele bei Marxismus immer noch an Stalinismus denken. Aber das ist nicht wichtig. Solange es genug Menschen gibt, die sich für eine bessere Welt einsetzen – Sozialisten oder nicht –, ist es mir egal, unter welchem genauen Namen das läuft.

Sie sagen, dass Macht dann wirksam ist, wenn sie die Fähigkeit zum Crossdressing besitzt. Das gilt für den Kapitalismus und den Sozialismus, siehe China, dann gleichermaßen?

Sie haben recht, China ist ein eigenartiger Hybrid. Entweder ist es der sozialistische Albtraum oder das kapitalistische Utopia. Denn ein Kapitalismus unter autoritärer Fahne ist genau das, was die Kapitalisten immer wollten. In China bestätigt sich auch die These, dass Kapitalismus und Demokratie keine natürlichen Verbündeten sind. Als ich in den Achtzigern das erste Mal dort war, war der Wandel in vollem Gange. Die Leute trugen noch Mao-Jacken. Ich kaufte auch eine und erzeugte damit im Laden ein gewisses Interesse, da ein Westler zu dieser Zeit ein eher ungewöhnlicher Anblick war. Als ich zehn Jahre später zurückkam, stellte ich fest, dass ich der Einzige war, der eine Mao-Jacke trug.

In Europa dagegen hat die Linke im Moment wohl eher mit sich selbst zu tun?

Ja, vielleicht. Aber ich glaube, das Problem der Linken ist heute, dass jene Kräfte, die zur Krise des Kapitalismus geführt haben, also die bösen und anarchischen, einerseits Möglichkeitsräume für die Linke eröffnet haben. Und sie gleichzeitig zurückgedrängt haben. Als die Krise begann, befand sich die Linke auf dem Rückzug. Und im Laufe dieses Rückzugs wurde schließlich auch die Sozialdemokratie zerschlagen, weil der Kapitalismus sich die Sozialdemokratie quasi nur in guten Zeiten leistet. Und zur selben Zeit – da denke ich vor allem an die Situation in Großbritannien – haben die Konservativen dann an den Universitäten, insbesondere bei den Geisteswissenschaften, die finanziellen Mittel radikal gekürzt. Das ist ihnen zwar nicht ohne ernsthaften Widerstand gelungen, aber es ist ihnen gelungen. Ich glaube, in den siebziger Jahren, in der Zeit, als ich Rektor in Oxford war, hätte das so nicht passieren können. Und zwar, weil es so etwas wie eine linke Kultur gab, einen Kontext, in dem Ideen und Widerstand Sinn ergeben haben. Aber wie ich bereits sagte, die Krise des Kapitalismus zeigt, wie abhängig die Sozialdemokratie von den Boom-Zeiten ist.

Das linke britische Wochenmagazin The New Statesmen hatte vor Kurzem „The German Problem“ getitelt. Sind wir Deutschen zu mächtig?

Nein, das ist eine Übertreibung. Zum einen relativiert das den Nationalsozialismus. Zum anderen verwechselt das die Dimensionen von kurz- und langfristiger Politik. Die europäische Balance der Macht kann sich schließlich schon morgen wieder verschieben.

Sie haben geschrieben, dass Fußball heute nicht nur das Opium, sondern das Crack des Volks ist. Das deutsche Champions-League-Finale in Wembley gucken Sie sich also nicht an?

Ehrlich gesagt, ich weiß nicht einmal davon. Ich habe auch oft Streit mit Taxifahrern, wenn die zu mir sagen: „Ah, Sie sind bestimmt wegen des Spiels in der Stadt.“ Dann sage ich: „Meiner Meinung nach sollte Sport einfach abgeschafft werden.“

Also doch stalinistisch!

Nein, nein. In dem Artikel lobe ich den Sport ja immerhin auch für die Hervorhebung menschlicher Höchstleistungen. Es ist ja Teil seiner Anziehungskraft, dass Leute, die Kunst nicht erleben können, dann dort genießen.

Das Gespräch führte Nils Markwardt

Terry Eagleton wurde 1943 geboren und ist ein einflussreicher britischer Literaturtheoretiker, genauer gesagt der marxistischen Literatur. Sein wohl bekanntestes Werk ist Literaturtheorie. Eine Einführung . Er war aktives Mitglied marxistischer Organisationen und meldet sich in britischen Zeitungen gern zur politischen Gegenwart zu Wort

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