Nachdem die britische Regierung Anfang vergangener Woche den „Tag der Freiheit“ ausgerufen und fast alle Corona-Schutzmaßnahmen aufgehoben hatte, folgte dieser Tage Ernüchterung. Nicht nur infizieren sich momentan rund 50.000 Briten am Tag mit Covid-19; Hunderttausende sitzen in häuslicher Quarantäne, sie fehlen wiederum an ihrem Arbeitsplatz. Vereinzelt gibt es in Supermärkten schon leere Regale, mancherorts fällt die Leerung von Mülltonnen aus, selbst die Polizei verzeichnet Personalmangel. Hat Boris Johnson sich abermals verkalkuliert? Ist er, so wie es eine Vielzahl internationaler Wissenschaftler:innen jüngst in einem offenen Brief beklagte, ein „gefährliches und unethisches Experiment“ eingegangen? Ähnlich gela
elagerte Fragen stellen sich bei der hiesigen Flutkatastrophe: Haben die Behörden die vorhergesagten Unwetter unterschätzt? Wären drastischere Warnungen nötig gewesen, durch das Auslösen vom Alarmsirenen etwa? Oder hätte Letzteres, so argumentiert die Verwaltung des Rheinisch-Bergischen Kreises in Nordrhein-Westfalen, nur zu Panik und Überlastung der Notrufe geführt?All diese Fragen zeigen nicht nur, dass der biopolitische Ausnahmezustand zusehends zum normalen Regierungsmodus avanciert, sondern machen noch etwas anderes deutlich: Mehr denn je leben wir heute in einer „Risikogesellschaft“. In seinem gleichnamigen Buch von 1986 hatte der Soziologe Ulrich Beck damit eine Gesellschaftsform auf den Begriff gebracht, in der die ökonomischen Verteilungskonflikte der industriellen Moderne nunmehr von Konflikten technologischer und ökologischer Risikoverteilung überlagert werden, die wiederum einer anderen Logik folgten. Oder, wie Beck es pointiert formulierte: „Not ist hierarchisch, Smog ist demokratisch.“ Mit Blick auf die Pandemie und die Folgen des Klimawandels zeigt sich in der Tat, dass davon potenziell alle Bürgerinnen und Bürger betroffen sind. Dementsprechend befinden sich heutige Gesellschaften in einem permanenten Modus des Risikomanagements, sodass sich politische Konflikte, das offenbart nicht nur die Situation in Großbritannien, sondern auch der Bundestagswahlkampf, vermehrt darum drehen, welche Abwägungen es zwischen „Sicherheit“ und „Freiheit“ zu treffen gilt.Doch auf den zweiten Blick stimmt die Diagnose der Risikogesellschaft für unsere Tage nur bedingt. Auch wenn Beck seinerzeit nicht komplett verneinte, dass die Verteilung ökologischer Risiken auch entlang von Klassengrenzen verläuft, ist heute klar, wie stark hierarchisch sich Smog, Hitze oder Sars-Cov-2 auswirken können. Sind schon hierzulande Geringverdiener einem höheren Infektionsrisiko ausgesetzt, offenbart sich das auf globaler Ebene noch deutlicher: Während die reichen Nationen bald durchgeimpft sind, wird das für viele Entwicklungsländer erst 2023 der Fall sein. Ähnlich beim Klimawandel: Brandenburgs Böden sind ausgedörrt. In Madagaskar bedroht eine auch klimwandelbedingte Dürre 400.000 Menschen mit dem Hungertod.Oft haben wir es heute gar nicht mehr mit Risiken im engeren Sinne zu tun. Lassen sich Risiken nämlich einschätzen, berechnen und dementsprechend absichern, offenbart sich die Pandemie, so bemerkte jüngst der Psychologe Gerd Gigerenzer, vielmehr als eine Erfahrung radikaler Ungewissheit. Diese Ungewissheit ergibt sich nicht nur aus der Hyperkomplexität unserer sozialen Systeme, also etwa daraus, dass ungewiss ist, wie Menschen ihr Verhalten angesichts steigender Inzidenzzahlen oder neuer Mutationen anpassen, sondern auch aus den Phänomenen selbst. Und zwar nicht nur in puncto Sars-Cov-2, über dessen Eigenschaften Expert:innen sich selbst erst sukzessive klar werden mussten, sondern auch im Hinblick auf den Klimawandel. Letzterer vermag absehbar Kipppunkte zu erreichen, etwa das Auftauen der Permafrostböden oder die Zerstörung von Korallenriffen, was wiederum ungeahnte Kettenreaktionen auslösen kann.Angesichts dieser Ungewissheiten besteht die vorderste politische Aufgabe in einem doppelten Ausbau von Infrastruktur, zum einen in der Errichtung schnell hochfahrbarer Notfallsysteme. Aus pandemischer Perspektive hieße das etwa das strategische Bereithalten intensivmedizinischer Kapazitäten oder die Sicherung nationaler Impfstoffproduktionsketten. Insbesondere mit Blick auf den Klimawandel ist zum anderen aber auch ein ökologischer Um- und Ausbau der grundlegenden Infrastruktur nötig: von der Mobilität über die Energieversorgung bis zur Landwirtschaft. Solch ein Green New Deal hätte den Vorteil, dass er nicht nur als Prävention gegen ökologische Katastrophen diente, sondern sich mit ihm auch positive Visionen verknüpfen ließen: grünere Städte, bessere Jobs, nachhaltigere Produktion. Denn Gesellschaften, darauf hat der Soziologe Andreas Reckwitz hingewiesen, die sich lediglich in einer „Politik des Negativen“ erschöpfen, also nur noch die Abwehr von Gefahren und Kalkulationen von Risiken betreiben, drohen die für politisches Handeln so nötigen Vorstellungen positiver Selbstentfaltung zu verlieren. In Anlehnung an Friedrich Hölderlins berühmte Gedichtzeile formuliert: Wenn dort, wo aber Gefahr ist, auch wirklich das Rettende wachsen soll, braucht es mehr als Risikomanagement.