„Westlicher Todestrieb“

Interview Wir Europäer müssen uns an Flüchtlingsströme gewöhnen, sagt der Philosoph Alain Badiou. Weil wir eine große Mitverantwortung tragen. Von Integration hält er gar nichts
Ausgabe 11/2016

Migration, Einwanderung, Asyl – dies sind die Themen, die Alain Badiou seit Jahrzehnten prägen. Nicht nur, weil er sie bei seinem andauernden Versuch, den Kommunismus neu zu denken, immer wieder in den Mittelpunkt gestellt hat, sondern auch, weil er sich seit Langem praktisch für Sans-Papiers engagiert. Etwa durch die von ihm 1985 mitbegründete Bürgerrechtsbewegung Organisation politique. Abends zuvor saß der Philosoph, der zu den international einflussreichsten Intellektuellen Frankreichs gehört, noch auf der Bühne des ausverkauften Berliner Gorki Theaters und diskutierte mit seinem Verleger Peter Engelmann über Strategien politischer Interventionen. Doch auch wenn Badiou, der bei einem Bekannten in Schöneberg übernachtete, beim Interview noch Morgenmantel trägt, ist er genauso hellwach und streitbar wie erwartet.

der Freitag: Herr Badiou, in Ihrer Theorie spielt der Begriff des Ereignisses eine zentrale Rolle. Er beschreibt das abrupte Einbrechen des Neuen, einen radikalen Riss in der bisherigen Ordnung. Erleben wir das gerade mit der Flüchtlingskrise?

Alain Badiou: Absolut. Es gibt natürlich eine lange Geschichte der Einwanderung, in Frankreich leben mittlerweile Millionen von Menschen, die einst aus Afrika oder anderen Kontinenten kamen. Aktuell gibt es jedoch einen zweifachen Unterschied. Der erste betrifft den Grund: Es geht hier vorrangig nicht um klassische Arbeitsmigration, sondern um die Folgen der Verheerungen im Nahen Osten und in Afrika. Der zweite betrifft die Form: Es ist kein langwieriger Prozess, sondern eben ein abruptes Ereignis.

Der mit ihnen befreundete Philosoph Slavoj Žižek hat in jüngster Zeit immer wieder betont, dass die Flüchtlingskrise auch das Ergebnis des globalen Kapitalismus sei. Sehen sie es ähnlich?

Ja, die Rolle des globalen Kapitalismus ist hier zentral. Er offenbart eine neue Form des Imperialismus, eine neue Form des Kampfes um Rohstoffe und Ressourcen. Das heißt, es ist nicht mehr der klassische Kolonialismus, in dessen Zuge ganze Staaten unterworfen wurden, sondern das, was man im Französischen „zonage“ nennt: die Akzeptanz zersplitterter, anarchischer Räume, in denen keine staatlichen Strukturen mehr herrschen, sondern kriminelle Gangs regieren. Der Westen beteuert etwa permanent, dass er die Terromiliz „Islamischer Staat“ bekämpfe, gleichzeitig hält er sie aber auch am Leben. Denn der IS ist mittlerweile ein ökonomischer Faktor, er handelt mit Kulturschätzen und Öl.

Der IS ist aus Ihrer Sicht also bereits in den globalen Kapitalismus integriert?

Exakt. In Afrika und dem Nahen Osten zeigt sich eine neue Form des imperialistischen Widerspruchs, dessen Konsequenz darin besteht, dass in vielen Regionen kein normales Leben mehr möglich ist. Man zerstört den Staat, kreiert eine anarchische Situation, unterstützt dann, je nach den eigenen Interessen, die eine oder andere politische Kraft. Das Ergebnis ist für die Zivilbevölkerung fürchterlich. Die Menschen können nicht mehr in ihrem Land bleiben.

Zur Person

Alain Badiou, 1937 in Rabat, Marokko, geboren, ist Philosoph, Mathematiker, Romancier und einer der wichtigsten Intellektuellen Frankreichs. Er gilt als führender Vertreter des Neo-Kommunismus. Nach Lob der Liebe (2015) geht es ihm aktuell um eine Philosophie des Glücks

Foto: Keffieh67/Wikipedia

Also kommen sie nach Europa.

Und Europa hätte die Mittel, Millionen Menschen aufzunehmen. Aber viele sehen in den Flüchtlingen eine Bedrohung ihrer Privilegien. Nun stimmt es, dass es gewisse kulturelle Unterschiede zwischen islamischen Ländern und Europa gibt, etwa im Hinblick auf die Rolle der Familie. Aber das ist natürlich nicht der Grund für die Situation im Nahen Osten. Diese wurde gewissermaßen künstlich herbeigeführt, durch die Zerstörung staatlicher Strukturen. Folglich müssen die Bevölkerungen in Deutschland, Frankreich und anderen europäischen Ländern die Flüchtlinge sozusagen als Quittung akzeptieren. Dafür, dass sie nichts gegen die Verwüstungen im Nahen Osten unternommen, ja diese teilweise erst geschaffen haben. Die Briten waren im Irak, die Amerikaner ebenso. Frankreich hat wiederum in Saudi-Arabien, dem wohl reaktionärsten Land in der Region, seine Interessen, etwa den Verkauf von Rafale-Jets.

Ihrer Meinung nach entstehen Ressentiments gegenüber Migranten also auch aus der Verkennung des geopolitischen Kontexts?

Ähnliches gab es früher auch. Viele Franzosen haben auf die Einwanderung von Menschen aus dem Maghreb mit Rassismus reagiert. Dabei ignorierten sie die Zusammenhänge. Denn der Grund für die Migration lag in der Entwicklung des französischen Kapitalismus. Die Einwanderer haben etwa in den Fabriken von Renault und Citroën gearbeitet. Die Mittelschichten kauften dann die Autos, ohne sich bewusst zu machen, dass sie das Ergebnis dieser Arbeiter sind. Die Entstehung reaktionären Positionen folgt also oft aus der Ignoranz gegenüber den Entwicklungsgesetzen des globalen Kapitalismus. Die Leute wollen nur die Produkte, aber sie vergessen die Gesetzmäßigkeiten dahinter. Sprich: die anarchische und gewaltsame Entwicklung des Kapitalismus.

Dennoch nimmt der Rechtspopulismus in Europa zu. In Deutschland reüssiert die AfD, in Frankreich bekommt Marine Le Pen immer mehr Zuspruch, in Osteuropa regieren rechtspopulistische Parteien. Was tun?

Kommt man der extremen Rechten entgegen, verstärkt man die Angst vor Flüchtlingen nur. Wenn die europäischen Regierungen sagen, dass sie nicht in der Lage seien, die Fluchtursachen zu bekämpfen, dann müssen sie mit den Konsequenzen leben und ihren Bevölkerungen klarmachen, dass Flüchtlingsströme unabwendbar sein werden. Denn Millionen Menschen fliehen aus ihren Ländern, weil sie dort einfach nicht mehr leben können. Und wir sind Teil dieser Entwicklung. Zumal der Westen, wie gesagt, zum Zwecke seiner eigenen Interessen die Existenz zerstörter Regionen akzeptiert.

Aber da machen Sie es sich doch zu einfach. Die Konflikte in Afrika und dem Nahen Osten sind doch nicht monokausal auf den Westen zurückzuführen, sondern entspringen ebenso der dortigen Unterdrückung, der Misswirtschaft, der Korruption.

Das auch, natürlich. Aber in Afrika gibt es heute praktisch keinen wirklich freien Staat. Es herrschen oftmals korrupte Eliten, die Teil des Systems des globalen Kapitalismus sind, keine Frage. Bedenken wir jedoch nur, was mit jenen passierte, die ihre Länder einst wirklich befreien wollten: Patrice Lumumba, Amílcar Cabral und Ruben Um Nyobé wurden ermordet, Kwame Nkrumah aus dem Amt geputscht. Zudem hat allein Frankreich innerhalb von 40 Jahren rund 50 Militärinterventionen in Afrika durchgeführt. Das ist eine Art permanenter Krieg. Und nun wird Afrika zur Ausplünderung freigegeben. Sei es durch französische, britische, amerikanische oder chinesische Großkonzerne. Und schließlich: Gruppierungen wie der IS oder Boko Haram existieren vor allem in Ländern, wo es Öl gibt. Deshalb könnte man zugespitzt sagen: Am Ende geht es weniger um die Frage des Islamismus als um die des Öls.

Im Zuge der Flüchtlingskrise stellt sich vor allem auch die Frage der Integration. Brauchen wir dafür eine stärkere europäische Identität?

Das Konzept der Integration lehne ich ab.

Wieso das?

Integration ist und war sehr lange Zeit das Konzept, mittels dessen lediglich die Unterdrückung und Separierung von Minderheiten legitimiert wurde. Denn die Frage ist ja: Integration in was? Die Antwort war immer: in das Wertesystem der westlichen Mittelklasse. Letztere sieht sich selbst als das gloriose Ergebnis der Menschheitsgeschichte, aber das ist sie nicht. Sie steht vielmehr für Egoismus, Engstirnigkeit, Ignoranz gegenüber Entwicklungsgesetzen der Moderne. Ich persönlich habe viele Menschen aus Afrika, die einen muslimischen Hintergrund haben, kennengelernt und mit ihnen gearbeitet. Und für mich gehören diese eher zu Frankreich als etwa Marine Le Pen.

Wenn es Ihnen nicht um Integration geht, um was dann?

Der Punkt ist nicht die Integration, sondern, dass der globale Kapitalismus in der westlichen Welt eine bestimmte Form der Moderne entwickelt hat. Eine, die gegenüber den Traditionen neue Freiheiten erzeugt hat. Das hatte Marx gewissermaßen vorhergesagt: die Auflösung aller hergebrachten Traditionen durch den kalten Weg des Geldes. Um die globale Hegemonie des Kapitalismus herauszufordern, dürfen wir aber nicht nach dessen Regeln spielen, die letztlich nur zur Entstehung von Milliarden Ausgeschlossenen führen. Wir müssen vielmehr eine neue Form der Modernität entwerfen. Mein Vorschlag ist die kommunistische Moderne, die nicht die Diktatur des Privateigentums bedeutet.

Die Integration abzulehnen, das dürfte manchen Rechten freuen.

Wir können nicht sagen, dass wir das Konzept der Integration befürworten müssen, weil es sonst reaktionäre Widerstände gibt und man der extremen Rechten in die Hände spielt. Denn am Ende macht man dann die Politik der extremen Rechten ohne die extreme Rechte – einfach weil man sich vor der extremen Rechten fürchtet.

In einem Interview mit „Libération“ haben Sie jüngst gesagt, dass die unerwiderte „Sehnsucht nach dem Westen“ eine Art „Todestrieb“ produziert hat – und zwar bei den Attentätern der Pariser Terroranschläge. Was meinen Sie damit?

Den Nihilismus jener jungen Männer, die den Massenmord in Paris verübten, habe ich versucht in psychoanalytische Begriffe zu fassen. Sie fühlten sich nicht als Teil der Gesellschaft, was sich zunächst in einer Art anarchische Orientierungslosigkeit zeigte. Sie glaubten nicht mehr daran, unter Beachtung der Regeln und Gesetze einen Platz in der Gesellschaft zu finden. Aus diesem Unwillen, ein richtungsloses Leben zu führen, entstand eine Form der Aggressivität – und zwar gegen das eigentliche Objekt ihres Begehrens. Sie wollten es zerstören, weil sie es nicht erreichen können. Vor diesem Hintergrund machen islamistische Organisationen schließlich ihre ideologischen Angebote. Sie versprechen, den verhassten Westen zu bekämpfen und diese Aggressivität zu glorifizieren. Solch fanatisches Märtyrertum hat eine lange Geschichte, das ist keine Erfindung des IS. Man denke an das Christentum oder den Heldenkult des Faschismus. Wo es Herrschaft gibt, gibt es auch das Begehren, auf der Seite der Herrschaft zu stehen. Aber es gibt ebenso die Reaktion, wenn sich herausstellt, dass das nicht möglich ist. Dann verwandelt sich das Begehren eines Objekts in jenes seiner Zerstörung.

Sie sprechen vom Entwurf einer „kommunistischen Moderne“. Das ist gleichermaßen abstrakt wie vage. Was würden Sie denn konkret jemandem antworten, der nun Angst hat, dass er mit Flüchtlingen um Jobs und Transferleistungen konkurrieren muss?

Da gibt es eine objektive und eine subjektive Antwort. Auf der objektiven Ebene weisen Ökonomen, die bekanntlich ja meist nicht gerade revolutionär eingestellt sind, darauf hin, dass die Flüchtlinge zwar nicht sofort, langfristig der Wirtschaft aber schon zugutekommen werden. Nach dem Ende des Algerienkriegs kamen innerhalb weniger Monate ebenfalls über eine Million Menschen nach Frankreich. Überall meinte man, dass es unmöglich sei, alle aufzunehmen und in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Aber sie wurden einfach Teil der ökonomischen Entwicklung. So ließe sich heute auch im Fall Deutschlands sagen: Hier gibt es über 80 Millionen Einwohner, eine Million mehr ist da verkraftbar. Auf der subjektiven Ebene muss man immer wieder betonen, dass viele fliehen, weil sie in ihrer Heimat schlicht nicht mehr leben können. Ebenso müssen wir vermitteln: Die aktuelle Erfahrung zeigt, dass wir die Welt nicht mehr in starren Grenzen denken können. Man kann die Entwicklung Europas nicht mehr von der im Nahen Osten oder Afrikas trennen.

Info

Philosophie des wahren Glücks Alain Badiou Paul Maerker (Übers.), Passagen 2016, 104 S, 13,90 €.

Über das Überleben: Die BIlder des Spezials

Jedes Jahr im Sommer entstehen an ukrainischen Fernstraßen kleine private Märkte für Gemüse und Obst. Die Händler richten sich in Hütten ein oder leben mit ihren Familien in Wohnwagen und Zelten. Sie kommen auch aus Weißrussland und Moldawien, Georgien oder Armenien – alle wollen Geld verdienen für ein besseres Leben oder einfach dem Hunger entkommen. Die preisgekrönte Serie Bitter Honeydew des Fotografen Kirill Golovchenko dokumentiert den Überlebenskampf der Straßenhändler und das nächtliche Treiben in ihrer Welt. Das Buch zur Fotoserie ist in fünf verschiedenen europäischen Verlagen erschienen, mehr Informationen auf kirill-golovchenko.com.

Bitter Honeydew Kirill Golovchenko Kehrer 2015, 76 S., 38 €

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