Wie einst bei den Primaten

Gestik Nun ist er auch noch preisgekrönt – der Stinkefinger. Aber wo kommt er eigentlich her?
Ausgabe 11/2016
Maurizio Cattelan hat ihm ein Denkmal gesetzt – vor der Mailänder Börse
Maurizio Cattelan hat ihm ein Denkmal gesetzt – vor der Mailänder Börse

Foto: Westend61/Imago

Emojis sind zur Universalsprache avanciert, Bilder der Flüchtlingskrise machen Politik. Hat man ohnehin schon das Gefühl, gerade eine Art iconic turn 2.0 zu erleben, so passt dazu auch, dass eines der meistdiskutierten Medienthemen des vergangenen Jahres in einer Geste bestand: im Stinkefinger bei Yanis Varoufakis. Zumindest indirekt ist dieser nun auch noch einmal prämiert worden: In der Kategorie Innovation in der TV-Unterhaltung gewann Jan Böhmermann jüngst den Grimme-Preis. Unter dem Stichwort „Varoufake“ hatte der Comedian im März 2015 die Medienöffentlichkeit genarrt, indem er behauptete, die Obszönität des griechischen Ex-Ministers sei von seinem Neo-Magazin-Royale-Team fingiert worden. Böhmermann fakte also den Fake. Denn soweit bekannt, war Varoufakis’ Geste eben nicht doctored, sondern authentisch.

Bei allem Rummel wurde eine Frage jedoch selten gestellt: Warum beleidigen wir uns mit dem Mittelfinger? Der in Stuttgart lehrende Gestenforscher Reinhard Krüger gibt in seinem gerade erschienenen Buch Der Stinkefinger Auskunft. Die Grundfunktion der Geste mag wenig überraschen. Der Digitus impudicus, wie sein lateinischer Name lautet, ist ein Phallussymbol. Genauer: Er ist das gestische Äquivalent zum Präsentieren des erigierten Penis bei drohender Gefahr, das man bei Primaten und archaischen Kulturen findet. Es ist also ein apotropäisches Zeichen – ein Mittel zur Schadenabwehr. Einerseits, weil der Phallus, das illustrieren viele frühzeitliche Artefakte, nicht nur Potenz anzeigt, sondern auch mit Waffen assoziiert wird. Andererseits, weil er als Faszinosum dient, als Mittel zur Bannung des bösen Blicks.

Sprich: Die Wirkung symbolischer Phalloi besteht „darin, den Blick desjenigen, der diese Gesten sieht, so zu fesseln, dass dieser Blick nicht woandershin gerichtet werden kann“. Kulturgeschichtliche Beispiele finden sich dafür zuhauf. Etwa in der Carmina Priapea, einer der ältesten Anthologien antiker Lyrik. „In einem Gedicht dieser Sammlung“, schreibt Krüger, „droht der (...) Hirtengott Pan jemandem, der ihn beleidigt, an, ihn in den Mund zu ficken, während er seinen Phallus drohend erhebt und dazu den Mittelfinger ausstreckt.“ Handelt sich beim Zeigen der Geste also stets um die „Sublimation von atavistischem Primatenverhalten“, ist die spezifische Ausführung jedoch variabel. Genauso wie das Kopfschütteln, das etwa in Bulgarien oder Indien nicht Abneigung, sondern Zustimmung signalisiert, ist auch der hier bekannte Stinkefinger eine zwar weit verbreitete, aber keineswegs universale Geste.

Um Abneigung auszudrücken, reckt man in Großbritannien neben Mittel- auch Ringfinger, in der Karibik zeigt man die Geste wiederum nicht mit dem Handrücken, sondern der Handinneren. Und hätte Varoufakis in griechischer Tradition provozieren wollen, hätte er die moutza, die geöffnete Handinnenfläche, ausfahren können. Die steht auf der hellenischen Obszönitätsskala wesentlich weiter oben.

Aber wer weiß, vielleicht war das vom Ex-Minister auch alles gar nicht so beabsichtigt. Krüger weist nämlich auf ein interessantes Detail hin. Varoufakis zeigte den Finger 2013 während eines Vortrags in Zagreb. Genau gegenüber der Bühne hing ein Plakat für Ai Weiweis Film Never Sorry, auf das der Grieche zuvor 40 Minuten lang geblickt hatte. Darauf zu sehen: Ai Weiweis großformatiger Stinkefinger, den er in Richtung des chinesischen Volkskongresses reckt. Also alles nur ein Gag des Unterbewusstseins? Zu psycho, um wahr zu sein.

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