Wovon man nicht sehen kann

Theorie Über das Wesen von Farben haben sich schon viele große Philosophen Gedanken gemacht. Und sich zum Teil grandios geirrt
Ausgabe 52/2013

Denkt man an Jean-Luc Godards 1963 erschienenen Film Le Mépris, erinnert man sich vermutlich zunächst an die Schönheit der hüllenlosen Brigitte Bardot. Oder an die melancholische Eleganz Michel Piccolis. Dabei ist der eigentliche Protagonist ein anderer: die Farbe. Das Drama über die Ehekrise eines Drehbuchautors entpuppt sich bei genauerem Hinsehen nämlich als eine Phänomenologie der Chromatik. Godard kompiliert den Film vor allem aus Rot, Blau und Gelb. Und obschon die Farben zunächst als Gegenstände – als Auto, Wand oder Badeanzug – daherkommen, werden sie inszenatorisch immer wieder von den Dingen gelöst, so dass sie in ihrer objektlosen Qualität erscheinen: reines Rot, reines Blau, reines Gelb. Die Schlusseinstellung vom wogenden Meerwasser, sie wirkt, als ob sie direkt dem Atelier Yves Kleins entspringt. Indem sich die Farben hier also von der empirischen Realität emanzipieren, zeigt Le Mépris bildgewaltig, dass diese nicht nur Gegenstand ästhetischer oder naturwissenschaftlicher, sondern auch philosophischer Betrachtung sein können.

Befreundete Farben

Wenn Godard also implizit fragt, was eine Farbe eigentlich ist, beschwört er eine philosophiegeschichtliche Tradition, die bis zu den Vorsokratikern reicht. Das erste chromatische Ordnungssystem findet sich nämlich bereits bei Empedokles. Davon ausgehend, dass Farben aus dem Zusammenspiel von Licht und Finsternis entstünden, vertritt er eine eigentümliche Vierelementelehre. Schwarz steht bei ihm für Wasser, Weiß für Feuer, Gelb für Luft und Rot für Erde. Zudem prägt Empedokles die einflussreiche, weil von Platon übernommene Strahlenlehre. Demnach ließen sich Farben nur wahrnehmen, weil unsere Augen Ausströmungen aussendeten, die dann von den Objekten reflektiert würden.

Neben Demokrit, der ein atomistisches Weltbild entwirft, bei dem Farben aus den unterschiedlichen Strukturen der Atome entstehen, ist es vor allem Aristoteles, der die Strahlenlehre verwirft. Für ihn, der bereits als junger Mann Naturstudien über Regenbögen oder Haloeffekte anfertigte, sind Farben Lichtphänomene. Sie brächten die Luft in Bewegung, so dass die Augen in Erregung gerieten. „Aristoteles spricht noch nicht von Schwingungen“, schreibt Armin Thommes in seiner konzisen Studie Die Farbe als philosophisches Problem, „doch seine Auffassung ist bereits ein deutlicher Vorläufer der gegenwärtigen physikalischen Bestimmungen.“

Liefert das Mittelalter in puncto Farbenlehre kaum Neues, werden Aristoteles’ Überlegungen für über 1000 Jahre den State of the Art bilden. Erst in der Frührenaissance wartet der Humanist Leon Battista Alberti wieder mit zwei großen Erkenntnissen auf. Zum einen ist er der Erste, der Schwarz und Weiß nicht mehr als Farben, sondern als Modellierungswerte definiert. Zum anderen formuliert er den Prototyp einer Empfindungslehre, indem er erkennt, dass es zwischen bestimmten Farben ästhetische „Freundschaften“ gibt. Bleibt das Mittelalter in theoretischer Hinsicht also eher ein blinder Fleck, spielt die Farbe dennoch eine immense Rolle. Wie Umberto Eco in seiner Geschichte der Schönheit betont, ist die Vorstellung vom „dunklen“ Mittelalter nämlich ein großer Mythos. Als Nebeneffekt der omnipotenten Theologie erfährt das Licht, verstanden als göttlicher Reflex, eine enorme künstlerische Aufwertung. Neben der Proportionalität ist es deshalb vor allem die claritas, die Leuchtkraft, die die zeitgenössische Idee der Schönheit prägt. „Deshalb“, so sagt Thomas von Aquin, „werden Dinge, die eine strahlende Farbe haben, schön genannt.“

1704 veröffentlicht Isaac Newton seinen Treatise of Optic und beschreibt Farben erstmals als spezifische Lichtwellenlängen, die durch Brechung sichtbar werden können. Johann Wolfgang von Goethe wird diese Idee rund einhundert Jahre später mit seiner Farbenlehre zu widerlegen versuchen. Dass es sich bei dieser Abhandlung um eine „totgeborene Spielerei eines autodidaktischen Dilettanten“ handelt, wie der Begründer der Elektrophysiologie Emil Heinrich Du Bois-Reymond urteilt, mag hart klingen, ist aber nicht vollkommen falsch.

Goethes Größenwahn

Goethe scheitert mit seinem Vorhaben grandios. Denn obwohl – oder gerade weil – er eine ganze Reihe von Experimenten anfertigte, führte er gegen den vermeintlichen „Irrtum der Newtonischen Lehre“ die Behauptung ins Feld, Farben entstünden aus dem Aufeinandertreffen von Licht und Dunkelheit. Das Licht selbst sei nämlich eine Einheit, ein „Urphänomen“.

Goethes Fehleinschätzung, die vor allem auf seine dualistische Naturauffassung und die falsche Interpretation prismatischer Experimente zurückgeht, hätte indes korrigiert werden können. Bekam er doch von einem Physiker einen Polarisationsapparat geschenkt, der Newtons These bestätigt hätte. Doch Goethe, so bemerkt sein Biograf Rüdiger Safranski, „weigerte sich beharrlich, den Apparat zu benutzen, ähnlich wie zwei Jahrhunderte zuvor die Heilige Inquisition das Fernrohr des Galilei zurückwies.“ Dementsprechend kamen ihm auch keinerlei Selbstzweifel. Ganz im Gegenteil empörte er sich darüber, dass seine Farbenlehre zwar in den Salons auf Wohlwollen stieß, in naturwissenschaftlichen Kreisen jedoch weitestgehend ignoriert wurde. In einer Mischung aus Größenwahn und Trotz korrespondierte er im Februar 1829 deshalb an Eckermann: „Auf alles, was ich als Poet geleistet habe, bilde ich mir gar nichts ein. […] Dass ich aber in meinem Jahrhundert in der schwierigen Wissenschaft der Farbenlehre der einzige bin, der das Rechte weiß, darauf tue ich mir etwas zugute, und habe daher ein Bewusstsein der Superiorität über Viele.“

Zu Goethes Ehrenrettung sei jedoch gesagt, dass der zweite zentrale Teil seiner Farbenlehre, die Empfindungstheorie, immerhin eine erhebliche Wirkung entfaltete. Denn Goethe glaubte das „Grundgesetz aller Harmonie“ gefunden zu haben. Ausgangspunkt war für ihn die Entdeckung, dass die lange Betrachtung blauer Farbe uns ein orangenes Nachbild sehen lässt. Und bei gelber Farbe ein violettes, bei roter Farbe grünes – sodass immer wieder die Totalität des Farbkreises entsteht. Daraus leitet er nun harmonische, charakteristische und charakterlose Kombinationen ab. Harmonische liegen sich im Farbkreis gegenüber, etwa Blau und Orange. Charakteristisch sind sie, wenn ein Mischton übergangen wird, beispielsweise bei Blau und Gelb. Charakterlos erscheinen schließlich Kombinationen, die im Farbkreis nebeneinander liegen, etwa Blau und Violett. Unabhängig von der Form habe aber auch die einzelne Farbe eine spezifische Wirkung. Gelb und Orange stimmten lebhaft, Blau und Violett hingegen unruhig. Grün wirke wiederum ausgleichend, weshalb es die günstigste Farbe zur Inneneinrichtung sei.

Die Goethe’sche Empfindungslehre veranlasste nicht nur Künstler wie Philipp Otto Runge oder Wassily Kandinsky, sondern auch Rudolf Steiner, Begründer der Anthroposophie, ähnliche farbphilosophische Überlegungen anzustellen. Und noch ein anderer großer Denker sollte sein Traktat als Inspirationsquelle begreifen. Es ist der kaum dreißigjährige Arthur Schopenhauer, der den Weimarer Geheimrat zwar bewundert, dessen Theorie aber gleichzeitig für unvollständig hält. Für Schopenhauer, der 1816 zunächst die Schrift Sehen und die Farben veröffentlicht und 1851 Zur Farbenlehre nachlegt, muss der Fokus stärker auf das Auge gelegt werden. Denn Farbe entstehe, so sagt er im Vorgriff auf Hermann von Helmholtz, durch lichtbedingte Netzhautaktivität. Schopenhauers Insistieren auf die retinale Dimension der Farbwahrnehmung wird ihn und Goethe schließlich entzweien. Verbunden bleiben sie indes in ihrem endlosen Selbstbewusstsein. So schreibt der junge Philosoph an den Dichterfürsten: „Ich weiß mit vollkommener Gewissheit, dass ich die erste wahre Theorie der Farbe geliefert habe, die erste, so weit die Geschichte der Wissenschaft reicht.“

Der letzte große Beitrag der Farbphilosophie kommt schließlich von Ludwig Wittgenstein. Der kritisierte nicht nur Goethes Idee der formunabhängigen Farbwirkung mit dem Einwand, dass das Rot eines blutunterlaufenen Auges schließlich anders wirke als das einer dekorativen Tapete – gemäß seines Credos, dass alle Philosophie Sprachkritik sei, steht für Wittgenstein fest: „Über die Begriffe der Farben wird man durch das Schauen nicht belehrt.“ Ihre Wahrnehmung laufe zwar über das Auge, ihre Analyse müsse jedoch die Sprachlogik berücksichtigen. In seinem linguistic turn konstatiert Wittgenstein nun beispielsweise, dass Grün als Grundfarbe zu fassen sei, obwohl es gemäß der subtraktiven Farbmischung aus Blau und Rot entsteht. Sein Argument: Die drei üblichen Grundfarben fungieren als eigenständige Farbzeichen, so dass sich auch Mischtöne durch sie beschreiben lassen. Denn Orange kann als gelbliches Rot, Violett als rötliches Blau erklärt werden. Grün kann man hingegen nicht als bläuliches Gelb beschreiben, daher sei es eine Grundfarbe.

Wittgenstein geht es also darum, Farben als sprachliche Konstrukte zu verstehen. Denn ein Objekt mag rot erscheinen, ändert sich jedoch das Licht oder verfügt der Betrachter beispielsweise über eine Rot-Grün-Schwäche, so könnte die Sache buchstäblich auch ganz anders aussehen. Oder in Wittgensteins Worten: „Es gibt ja kein allgemein anerkanntes Kriterium dafür, was eine Farbe sei, es sei denn, dass es eine unserer Farben ist.“

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