Unter falscher Flagge

Endorphine Martyrien Sport ohne Schmerz ist wie eine Oper ohne Gesang. Doch kaum jemand darf zugeben, dass die Qual eine Lust ist. Eine Freiburger Studie untersucht den Umgang mit Schmerz

Es muss nicht immer gleich der Fußballweltmeistertitel sein, das Leben ist auch ohne die Krone im Fliegengewicht der Boxerinnen lebenswert, und es geht auch ohne Tour de France -Sieg. Sport hat viele Dimensionen. Doch wer richtig gut sein will, muss härter ran; gut sein tut weh. Leistungssport ohne Schmerz ist wie Oper ohne Gesang. Schmerz selbst gilt nicht gerade als sonderlich sexy - wer hat schon gern Zahnschmerzen? Und was täten wir ohne Wegziehreflexiv bei Tuchfühlung mit der heißen Herdplatte? Schmerz ist vielerlei. Nichts Privates, Individuelles, sondern - das behaupte ich hier - etwas verkörpertes Soziales, eine Sache der Identität. Der Umgang mit Schmerz lässt Rückschlüsse zu, sagt, wer man ist, wogegen man sich abgrenzt und womit man sich identifiziert. Besonders dankbare Demonstrationsobjekte für das Nachdenken über Schmerz sind (ambitionierte) Sporttreibende. Sie haben sich "für Schmerz entschieden", das heißt sie nehmen ihn als selbstverständliche Zutat ihres Alltags in Kauf. Mehr noch: Viele Sportive deuten Schmerz positiv um und inszenieren ihn in vergemeinschaftender Weise. Das ist nicht wenig für eine Gesellschaft, in der man immer mehr brotneidende Rücksichtslosigkeit, verlorenen Gemeinschaftssinn und soziale Abkühlung beklagt.

Wie solche Umdeutungen von Schmerz funktionieren, damit beschäftigt sich derzeit auch ein soziologisch-psychologisch-gendertheoretisches Teilprojekt im Rahmen eines interdisziplinären Forschungsvorhabens Intersubjektive Konstruktion und sprachliche Codierung von Schmerz an der Universität Freiburg. Dort haben bislang 21 Gruppen mit insgesamt 148 DiskutantInnen (55 Männer, 93 Frauen) jeweils zwischen einer und drei Stunden lang darüber geredet, was Schmerz für sie bedeutet; einige Einzelinterviews ergänzen die Gruppengespräche. Die Gruppen stammen aus unterschiedlichen Zusammenhängen wie Selbsthilfegruppen von meist chronisch Kranken, mit Schmerz befasste Professionelle aus dem medizinischen Bereich, Mütter nach der Geburtserfahrung, Hebammen, eine Bluesband, transsexuelle Männer, vier Gruppen verschiedener SM-Praktizierender sowie drei Sportgruppen, auf deren Aussagen ich mich im Folgenden konzentrieren werde, nämlich eine schlagende Verbindung, eine Kampfsport- und eine Triathlongruppe.

Sich über Schmerz abgrenzen

Die drei Sportgruppen sind so "normal" wie die übrigen 18 Gruppen auch: Sie grenzen sich gegen diejenigen ab, die "übertreiben", also Schmerz um seiner selbst willen suchen, das Maß verloren haben und damit ins Pathologische und "Perverse" kippen. Dahinter stehen - das ist die banale Einsicht - Identitätskämpfe, Selbstdefinitionen, Positions- und Statuszuweisungen, die über Kompetenz- und Machtspiele laufen. Der Gruppe der TriathletInnen etwa gelingt der Spagat zwischen grenzgängerischer Besonderheit und alltäglicher Normalität ("Wir sind normal in unserer Familie, der Triathlonfamilie.") indem sie sich zum Beispiel dezidiert von Nicht-SportlerInnen abgrenzt. Das seien 08/15-Menschen in der Fußgängerzone, die couch-potatos, die nicht so viel körperliche Belastung auf sich nehmen. Die Nicht-SportlerInnen sind also vor allem als Abgrenzungsfolie wichtig. Ebenso die Hobbyjogger, Hobbysportler oder leistungsschwächere TriathletInnen und MarathonläuferInnen. Hobbyjogger "fangen nach fünf bis sechs Kilometern Laufen an zu schwitzen und hören auf", sie kommen gar nicht bis zu einer wie auch immer gearteten Schmerzgrenze. Sollte das dennoch einmal der Fall sein, "jammern sie fürchterlich". Kritisiert wird hier also eine Weichei-Mentalität, die sich auf Schmerz gar nicht einlässt oder in der Weise, dass sie gar nicht "durch ihn durch geht". Wenn leistungsschwächere TriathletInnen und MarathonläuferInnen über Schmerzen klagten, dann deshalb, weil sie sich übernommen und/oder zu wenig trainiert hätten. Diese Abgrenzung ist wichtig, um den Leistungsgedanken und die Unterscheidung von normalen Motivationen des Sporttreibens (Gesundheit, Fitness, Geselligkeit, Freude an der Bewegung) zu rechtfertigen. Denn auch in der Triathlongruppe gilt es schließlich nicht als normal, sich Schmerzen zuzufügen. Sie nehmen sie aber in Kauf, um schneller zu werden.

Die TriathlethInnen betonen, dass sie den Schmerz nicht um seiner selbst willen suchen oder als Druckabfuhr benutzen. "Wenn wir unseren Körper einer Belastung aussetzen, dann empfinden wir das nicht als Schmerz, sondern bestenfalls als Unwohlsein oder als Ermüdung, als einen sehr normalen Vorgang. Wir sind keine Sadisten, die sich mit der Nadel ständig stechen." Quintessenz: Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Besonders in der Abgrenzung gegen "perversen Schmerz" wird das Bedürfnis nach Anerkennung auch außerhalb der eigenen Sportfamilie deutlich: Sonderstatus und Exklusivität ja, Perversion nein. Zu einem solchen Handling von Besonderheit und Normalität passt eine weich gezeichnete Bewertung von Schmerz, die nach mehr aussieht als nach einer rein kognitiven Umdeutung. Das tun auch die Kampfsportler. Sie goutieren, "dass man etwas fühlt" - und auf einmal ist von einer Intensität des Lebens und von Lust die Rede: "Ich ... find Schmerzen geil." Wüsste man in diesem Beispiel nicht um den Kontext des Kampfsports, könnte man meinen, man hätte SelbstverletzerInnen vor sich, die über Schmerz an Erlebensqualitäten gelangen, die sie sonst nicht (mehr) erreichen können. Bei der hier verhandelten Umdeutung von Schmerz indes ist etwas anderes im Spiel, nämlich Endorphin. Dieser vom Körper in Stress- und Anstrengungssituationen produzierte Stoff senkt das Schmerzempfinden und führt bis zum Rausch. Um einen solchen Kick etwa geht es auch einigen fechtenden Corpsstudenten: "Das sind aber keine Schmerzen, das ist geil." Hier ist die Grenze zur Lust fließend: Über einen physischen "Muntermacher" versetzen sich einige Akteure auf diese Weise in Euphorie. So auch eine Ultraläuferin bei einer 55 Kilometer langen Alpenetappe: "Und ich merke, dass ich die Schmerzen sehr gut verkrafte. Dass ich nicht an die Schmerzen denke, nur an den Spaß. Weißt du, an das Schöne, an die Natur. Weil ich die Natur liebe, und die Berge." Der sich bewegende oder bewegte Körper im Kick liebt diese Erschöpfung, wie etwa nach einem intensiven oder langen Training, die nur zeitlich begrenzt und dosiert auszuhalten ist.

Den Schmerz umdefinieren

Keiner der Sporttreibenden will ein "Schmerzjunkie" sein, Schmerz gilt als Mittel zum Zweck, wenn die Zwecke auch verschieden sind (Leistungssteigerung, Warnung vor Überlastung, intensive Körpererfahrung und so weiter). Delikat ist dabei, dass diese Empfindung nun nicht mehr unter der Flagge Schmerz segeln darf. Denn Schmerz ist ja im Allgemeinverständnis unangenehm, und genau das macht eine Umdefinition erforderlich. Endorphin sei Dank, denn dieses Hormon sorgt für einen mentalen Zustand, der Schmerz zum Erlebnis macht. Was vorher Schmerz war, ist jetzt etwas Angenehmes, Wohliges, ein Kick. Aus Schmerz- werden Endorphinjunkies: "ich quäle mich gerne."

Das klingt nicht mehr sonderlich lustorientiert. So fahren die DiskutantInnen auch heftiges Vokabular auf, wenn sie die Möglichkeiten und Grenzen der Kontrolle von Schmerz verhandeln: Es gilt, den Geist zu kontrollieren, die Selbstbeherrschung nicht "aus der Hand" zu geben, die "Überlegenheit des Willens über die Körperlichkeit" unter Beweis zu stellen. Für die Corpsstudenten geht es bei einem Kampf nicht darum, den anderen "abzustechen", sondern die Partie "sauber" zu fechten. Standardbegriffe der TriathletInnen für Kontrolle sind "über den Schmerz drüber gehen" und "den Schmerz wegdenken", ihn also gar nicht Thema werden zu lassen. Dazu sind positive Leitsätze nützlich - man denkt während schmerzhafter Phasen im Wettkampf an etwas Schönes oder an das Ziel. Es spricht für eine (keineswegs nur als männlich konstruierte) Härte, mit Schmerzen einen Wettkampf durchzustehen, sondern auch für eine ausgeprägte Leistungsorientierung und Disziplin: "Ich hab ein Jahr lang auf das ganze trainiert und weiß, mit dem Schmerz da kann ich jetzt umgehen. Mit dem kann ich eine Stunde lang rennen, das ist nichts, was mich großartig einschränkt." Kontrollieren heißt hier nicht (nur), Schmerz zu reduzieren oder ihn gar nicht erst entstehen zu lassen, sondern ihn zu ignorieren. Der Körper wird dazu genutzt, "dieses Empfinden einfach auszuschalten" oder zumindest hinauszuzögern. Damit ist der Körper zum Gegner geworden, den es instrumentell zu nutzen und zu besiegen gilt ("das ist mein Arbeitsmaterial und es muss funktionieren").

Aber wozu eigentlich sich quälen? "Zu schauen, wie weit bringe ich meinen Körper", das ist nicht nur für LeistungssportlerInnen eine Lebenseinstellung. Erst am Ziel kommt die Befriedigung, geschafft zu haben, was man sich vorgenommen hat. Der Genuss stellt sich nach der Qual, nach der geleisteten Arbeit ein. Und wer nicht an die Schmerzgrenze geht, kann das Gefühl haben, nicht alles aus sich herausgeholt zu haben. Dafür müssen die AkteurInnen ihre Körper mit Hilfe klugen Trainings, mentaler Hilfestellungen und schließlich der Ausschüttung von Endorphinen dazu bringen, sich nicht vom Schmerz stoppen zu lassen. "Quäl dich, du Sau!" Dieser Satz von Udo Bölts zum kämpfenden Jan Ulrich bei der Tour de France ist Legende. Das ist ein durch Endorphine erträglich gemachtes Martyrium: Der Körper schreit nach einem Ende der Anstrengung und hält diesen Wunsch durch die Ausschüttung von schmerzdämpfenden Hormonen auf einem aushaltbaren Niveau.

Dieser wurzelt nicht zuletzt in der protestantischen Arbeitsethik: Genuss ist nur in Maßen und nur nach erfolgreicher harter Arbeit erlaubt. Ohne Fleiß kein Preis. Das Tun ist dem erwünschten Resultat nicht nur untergeordnet. Das Ergebnis ist auch und vielleicht vor allem ein Wissen. Nämlich das Wissen darüber, was man aus seinem Körper herausholen kann. Eine kognitive Angelegenheit also. Wie bei der Diskussion darüber, was als Schmerz bezeichnet werden kann und was nicht, geht es klammheimlich gar nicht mehr um Empfindungen und Wahrnehmungen, sondern um die dahinter stehenden Werte des "schneller, weiter höher". Es ist nie genug, die Leistung ist immer noch steigerbar, die Schmerzgrenze kann immer noch weiter hinaus geschoben werden. Auch darin steckt ein Kampf um Definitionsmacht, um Kompetenz und Status: Schmerz ist negativ, er darf nur Mittel zum Zweck sein, und bei der gleichzeitigen Konstruktion von Normalität, Exklusivität und Heldentum ist eine Botschaft überdeutlich: Wir kontrollieren den Schmerz, er kontrolliert nicht uns!

Schmerz modern

Was heißt das in einem breiteren gesellschaftlichen Zusammenhang? Die schlussendlich soziale und identitätskonstituierende Pointe beim Umgang mit Schmerz (Instrumentalisierung und Funktionalisierung für Leistungssteigerung, Ehre oder Heldenkonstruktionen) schillert zwischen Exklusivität und Normalität, nimmt beides für sich in Anspruch. Das ist kein Widerspruch. Schmerz ist nicht einfach "geil", ein endorphines Martyrium, Lehrmeister, Freund oder Feind, sondern ein Medium der sozialen Verortung und Positionierung zwischen der Inszenierungen des Außergewöhnlichen und dem Einreihen in die Welt des üblich Anerkannten. Der Umgang mit Schmerz bringt damit Identitätsimperative der Moderne auf den Punkt: weiter so, Augen zu und durch, und das alles als freie, autonome Entscheidung. Widersprüchlich mögen die gesellschaftlichen Anforderungen sein, nicht aber die individuell erscheinenden Lösungen. Die skizzierte moderne Bewältigung von Schmerz ist freilich keine unilineare "weiter-so-Dynamik", sondern lässt sich als ambivalenter und paradoxer Prozess begreifen, der von Brüchen und Umschlägen gekennzeichnet ist. Diese Dynamik des "gemeinsam einsamen Aushaltens" und des "den Kopf Hinhaltens" für Leistung, Status und Ehre ließe sich auch durch die Figur des "gemeinsam Erlebens" ergänzen, wofür etwa die Angst der Corpsstudenten vor Schmerz steht, die sich leichter überwinden lässt, wenn man es für die Gemeinschaft, die Burschenschaft tut. Umgekehrt heißt das natürlich auch, dass man sich nicht lächerlich machen, "seinen Mann stehen möchte". Schmerz wird sozial aufgefangen, schafft ein Zusammengehörigkeitsgefühl und damit Identität. Das lässt sich schließlich auch als Mittel der Gesellschaftsdiagnose nutzen. Dann liest sich der sich bewegende Körper im Schmerz als mitunter laut artikulierter Anspruch und Schrei nach kollektiven Bewältigungsstrategien, die mehr sein sollen als das strategische Schmerzmanagement vereinzelter Ich-AGs.

Nina Degele ist Professorin für Soziologie an der Universität Freiburg. Im Herbst erscheint von ihr: Sportives Schmerznormalisieren. Zur Begegnung von Körper- und Sportsoziologie. (in: Robert Gugutzer (Hg), bodyturn. Zur Verkörperung der Soziologie, Transcript-Verlag)


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