Das Prekäre wird zur Normalität

Dr. Oetker Die „neue“ Logistikbranche, die sich immer mehr ausbreitet, unterhöhlt bereits gewonnene Arbeitnehmerrechte. Ein Beispiel: der Lieferdienst „Flaschenpost“
Ausgabe 29/2021
Nicht erst wenn ein Logistik-Startup vom Lebensmittelriesen übernommen wird, gehen die Arbeitnehmerrechte zu Bruch
Nicht erst wenn ein Logistik-Startup vom Lebensmittelriesen übernommen wird, gehen die Arbeitnehmerrechte zu Bruch

Foto: Gottfried Czepluch/IMAGO

Diese Kolumne handelt oft davon, wie Tech-Unternehmen nach Silicon-Valley-Vorbild Arbeitsrechte aushöhlen und gewerkschaftliche Mitbestimmung zu unterbinden versuchen. Wenn dabei der Eindruck entstanden sein sollte, dass herkömmliche, alteingesessene Familienunternehmen, deren Namen nach guter alter BRD und NS-Zwangsarbeit klingen, irgendwie besser wären, dann kann das Bild korrigiert werden.

Im Oktober 2020 übernahm der Dr.-Oetker-Konzern das auf eine Milliarde Euro Wert geschätzte „Einhorn“-Unternehmen Flaschenpost. Flaschenpost ist ein Getränke- und Gemischtwarenlieferdienst. Dr. Oetker konnte dessen ausgebaute Infrastruktur gut gebrauchen, um sie in das eigene Produkt- und Liefergeschäft zu integrieren und seine Marktposition zu verbessern. Womit Dr. Oetker aber wenig anfangen konnte, waren alle Arbeiter*innen des eigenen Getränkelieferdienstes Durstexpress.

Also bekamen etwa 450 Arbeiter*innen in Leipzig im Januar die Kündigung; eine Betriebsratsgründung kam zu spät, um den Prozess noch stoppen oder wirklich abfedern zu können. Hier zeigte sich, wovor viele Beobachter der „neuen“ Logistikbranche schon lange Zeit warnen: Die neuartig anmutenden Tech-Unternehmen sind nur die Vorhut einer Aushöhlung bereits erkämpfter Arbeitsrechte, die auch den herkömmlichen, sozialpartnerschaftlicher zurechtgestutzten Branchen zeigen, wie man Risiken auf Arbeiter*innen abwälzt, Gewerkschaften außen vor hält und dadurch die eigenen Profite steigert. Und die entlassenen Arbeiter*innen?

Nach der Kündigung bot Dr. Oetker ihnen an, sich bei Flaschenpost neu zu bewerben, natürlich zu schlechteren Konditionen. Manche taten das wohl, andere gingen zu anderen Logistikunternehmen, zu Zeitarbeitsfirmen oder in andere Branchen. Das Prekäre ist mittlerweile ein fester, quasi natürlich wirkender Bestandteil der Logistikbranche, die wächst und wächst. Wobei wachsen heißt: als umkämpfter Markt mit immer neuen Geschäftsideen. Hier gibt es Supermarkt-Start-ups wie Gorillas, das damit wirbt, Einkäufe in zehn Minuten liefern zu können, und in Berlin diesen Sommer von immer neuen Hoffnung machenden Streiks überrollt wird, weil die Arbeiter*innen einen langen Atem beweisen. Und es gibt das Beispiel Dr. Oetker, das zeigt, wie viel mehr gewerkschaftliche Organisierung und betriebliche Gegenmacht in dieser Branche nötig sein werden und wie viel Arbeit noch vor den Gewerkschaften NGG und der FAU und vor uns allen liegt, damit Arbeiter*innen sich in Zukunft wenigstens minimal schützen können.

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