Ein Tarifvertrag ist eine gute Sache: Im Durchschnitt haben Beschäftigte dadurch elf Prozent mehr Lohn. Arbeitszeit, Urlaub und Gehalt sind durch ihn geregelt, das Gehalt kann nicht einfach gekürzt werden, Tarifbeschäftigte arbeiten im Bundesdurchschnitt fast eine Stunde weniger. Man muss seinen Vertrag auch nicht einzeln verhandeln, sondern kann – wie aktuell die Beschäftigten des öffentlichen Diensts oder bis vor Kurzem die Post-Angestellten – den Arbeitgebern kollektiv gegenübertreten. Man weiß, wie viel der Kollege verdient. Und das Beste: Man kann legal streiken!
Trotzdem haben viele Menschen in den vergangenen Jahren gedacht, ein Tarifvertrag wäre nichts für sie, der würde sie nur einengen. Junge Menschen würden zu diesem ideologischen Zaubertrick vielleicht gelungenes „Gaslighting“ sagen. Besonders die in den vergangenen Jahrzehnten neu entstandenen Start-ups haben gedacht, sie hätten die Zeit der Gewerkschaften und Tarifverträge schon hinter sich gelassen. Das Schöne ist: Da haben sie die Rechnung ohne die Beschäftigten gemacht! Seit im August 2016 die Kurierfahrer von Deliveroo in London in einen „wilden Streik“ getreten sind, gibt es einen harten Kampf der Kuriere, der in Deutschland bis heute vital ist.
Denken wir nur an den Sommer 2021, als die Gorillas-Fahrer in Berlin in wilde Streike traten – und damit nicht nur ihre Arbeitgeber, sondern auch die sozialpartnerschaftlichen Gewerkschaften herausforderten. Trotzdem hätte 2016, als die Kurierfahrer sogar noch auf ihren eigenen Rädern unterwegs waren und von Festanstellungen nur träumen konnten, wahrscheinlich niemand gedacht, dass es mal einen Tarifvertrag bei einem ehemaligen Gig-Unternehmen geben könnte.
Für die Lieferando-Fahrer in Deutschland ist das jetzt aber der logische nächste Schritt ihrer Kämpfe. Sie fordern gemeinsam mit ihrer Gewerkschaft NGG einen Mindeststundenlohn von 15 Euro, Urlaubs- und Weihnachtsgeld, verbesserten Arbeitsschutz und angemessene Sonderschichtzuschläge. Und diesen Tarifvertrag fordern sie natürlich nicht nur für die Fahrer, sondern für alle 7.000 Lieferando-Beschäftigten, was angesichts der Kündigungswelle im Tech-Sektor wohl auch für die interessant sein sollte, die im Büro und nicht auf der Straße arbeiten.
Bisher hat Lieferando nicht auf die Forderungen reagiert, berichten die Fahrer. Deswegen sollen auf die ersten Proteste bald Warnstreiks folgen. Lieferando sollte sich aber besser warm anziehen. Denn: dass sie einen langen Atem haben, müssen die Kurierfahrer wohl wirklich nicht mehr unter Beweis stellen.
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