Natalie Fenton, Professorin für Medien- und Kommunikationswissenschaften in London, geht mit ihrem Fachbereich hart ins Gericht. In Digital Political Radical, ihrem neuen Buch, wirft sie ihren Kolleginnen und Kollegen Untätigkeit vor und kritisiert deren Obsession für technische Gadgets oder soziale Netzwerke. Stattdessen plädiert sie für eine stärkere Hinwendung der Wissenschaften zu politischer Basisarbeit – und für mehr Mut zu Experimenten.
der Freitag: Frau Fenton, in Ihrem neuen Buch gehen Sie Ihre Kollegen ganz schön hart an. Warum?
Natalie Fenton: Meine akademische Arbeit hat mich zunehmend frustriert. Wir Wissenschaftler sind mitverantwortlich für die politische Krise, weil wir keine politischen Ideen mehr produzieren – die wir dringender brauchen denn je. Seit der Finanzkrise 2008 werden die Ungleichheiten in allen Bereichen größer, der Rechtsruck stärker. Ich schlage vor, die Wissenschaft wieder als Werkzeug zu betrachten. Wir müssen uns fragen: Was ist der nächste Schritt? Geisteswissenschaften, die diese Frage nicht mehr stellen, sind nutzlos.
ZUR PERSON
Natalie Fenton lehrt an der Londoner Goldsmith-Universität und schreibt medien- und internetkritische Essays. Ihr jüngstes Buch Digital Political Radical (John Wiley & Sons 2016) wird von vielen als kluger Beitrag zur Kritischen Theorie gefeiert
Foto: Adam Berry/ Berliner Gazette
Woher kommt diese Apathie?
Der Neoliberalismus hat auch den Wissenschaftsbetrieb verändert. Es findet kaum noch transdisziplinäre Forschung statt, stattdessen produzieren wir am laufenden Band Texte. Wir sind Opfer, Produkt und Teilnehmer der kapitalistischen Produktion. Die neoliberale Universität beutet uns aus, saugt Wissen aus uns heraus, um es anderweitig zu verwerten. Wir müssen uns dagegen wehren.
Wäre ein Schritt, nicht mehr auf Konferenzen zu gehen, wo endlos über den Zustand des Kapitalismus gesprochen wird, aber nichts Praktisches gegen die Missstände unternommen wird?
Wir sollten niemals damit aufhören, miteinander zu reden, zu streiten, Ideen auszutauschen. Aber wir müssen dringend auch an andere Orte gehen, wir müssen unsere Komfortzonen verlassen. Ich persönlich verbringe viel Zeit auf politischen Veranstaltungen in London. Dort treffe ich fast nie andere Akademiker.
Was empfehlen Sie Menschen, die etwas verändern wollen?
Einfach anfangen. Alles zählt, jeder Versuch. Ich verstehe, warum viele davor zurückschrecken. Politik ist harte, erschöpfende, frustrierende Arbeit. Und wir Wissenschaftlerinnen arbeiten schon ziemlich hart, sind oft erschöpft und frustriert. Außerdem werden wir mit vielem, was wir ausprobieren, wohl scheitern. Und zwar nicht nur einmal. Ich schlage aber vor, das positiv zu sehen: Wir werden auch jedes Mal etwas besser scheitern. Mit Menschen zusammenkommen, von ihnen lernen, mit ihnen lernen, Solidarität erfahren, Zustände ändern, egal wie klein das ausfällt: Das ist auch sehr befriedigend. All das greift die neoliberale Kultur an.
Wo sollten Menschen, die den akademischen Raum auch mal verlassen wollen, um sich zu engagieren, denn hingehen?
Vieles passiert an Orten, die wir vielleicht gar nicht besonders politisch finden, weil es dort um alltägliche Probleme geht. In London passiert derzeit am meisten im Bereich der Wohnungspolitik. Die Fragen, die da gestellt werden, sind sehr radikal, weil es um konkrete Besitzfragen geht, einen der wichtigsten Knackpunkte des Kapitalismus. In London gibt es keine Mietobergrenzen. Es ist unmöglich für jemanden mit einem durchschnittlichen Gehalt, eine bezahlbare Wohnung zu finden. Viele wollen das nicht mehr hinnehmen: Sie besetzen leerstehende Gebäude oder kämpfen gegen Zwangsräumungen, sie sehen Möglichkeiten wo zuvor nur Ausweglosigkeit war. Das motiviert mich, weil wir die Schockstarre der letzten Jahre langsam verlassen.
Lokale Solidarität allein schafft aber noch nicht die radikale Politik, für die Sie werben, oder?
Politik ist Philosophie, Praxis und Institutionalisierung. Wir müssen uns um alle drei Ebenen kümmern und gleichzeitig ihre Grenzen durchbrechen. In dieser Hinsicht können wir viel von Spanien lernen. Nicht nur in Barcelona oder Madrid, auch im Süden probieren Menschen dort jetzt verstärkt aus, in politische Prozesse einzugreifen, sie gründen etwa Kooperativen oder versuchen, das Zusammenleben mit Geflüchteten zu gestalten. Das ist spannend. Und aus dieser politischen Bewegung ist mit Podemos immerhin auch eine neue Partei entstanden.
Aber kann Podemos eine wirklich radikale Politik umsetzen?
Vielleicht nicht sofort. Aber auch hier schlage ich eine positivere Lesart vor: Podemos hat etwas freigesetzt. Es gibt hitzige Diskussionen über Partizipation und linke Macht. Wir wissen jetzt: Es kann keine wirklich linke Partei ohne eine starke außerparlamentarische, radikale Bewegung und ohne Solidaritätsnetzwerke an der Basis geben. Das ist das Problem von uns allen: Jeden Tag müssen wir uns die Frage stellen, an welchen Punkten wir das System bekämpfen und wo wir nachgeben. Das ist ein ewiges Experiment. Es gibt keine Straßenkarte für Veränderung von links. Wir müssen sie zeichnen, während wir sie kreieren.
Sie schreiben, dass viele Linke soziale Netzwerke überwerten. Diese seien gut dafür, Menschen punktuell zu verbinden – aber die richtige Selbstorganisation müsse jenseits des Internets aufgebaut werden. Ich dachte beim Lesen an den Women’s March gegen Trump, der kurzfristig viele Frauen und andere mobilisiert hat, bei dem aber die Gefahr besteht, dass die Energie verpufft.
Ich finde es großartig, wenn die Menschen auf die Straße gehen. Gerade in verzweifelten Zeiten macht das viel aus. Eine Massenversammlung ist ein sehr bewegendes Erlebnis. Man kommt dort wortwörtlich mit Menschen in Berührung, kann die Solidarität spüren. Aber wir sollten uns auch nichts vormachen: Das war es dann oft auch. Das Internet hilft dabei, tausende Menschen auf die Straße zu bekommen. Aber wir lassen uns auch leicht von dieser Schnelligkeit und dieser Aufregung verführen. Politik ist leider ein sehr langsamer Prozess. Es werden harte und lange Debatten geführt, die dann nicht mehr so aufregend sind wie diese Momente der Einigkeit auf der Straße.
Sie schlagen vor, dass Linke die Technik lediglich strategisch nutzen und sich stattdessen mit anderen, sozusagen analogen Themen beschäftigen sollen.
Linke Technologie-Utopisten sind gerade sehr angesagt, ihre Ideen klingen verführerisch: Wir brauchen nur die richtigen Tools, und schon läuft es mit der gesellschaftlichen Veränderung. Natürlich ist es großartig, wenn es dissidente Apps gibt, wenn etwa Grenzübertritte für Migranten damit erleichtert werden. Den Kapitalismus werden wir mit solchen Werkzeugen aber nicht überwinden. Google und Apple werden auch dann immer mächtiger werden, wenn wir Alternativen zu ihren Produkten entwickeln. Widerstand wird stärker kriminalisiert werden, der ökonomische Druck und die Überwachung werden zunehmen – und gegen all das hilft nur die Gegenwehr aus starken Basisstrukturen. Trefft euch mit Menschen und bildet die Politik von unten nach oben. Es gibt keinen anderen Weg.
Sie nehmen sich auch die Presse höchst kritisch vor, vor allem die öffentlich-rechtliche BBC.
Wir haben in Großbritannien ein großes Problem mit unserer Presse. Aus guten Gründen vertrauen viele Menschen der BBC mehr als zum Beispiel der Daily Mail, die für aggressivsten Boulevard steht. Aber auch die BBC ist nicht unproblematisch. Der Sender bekommt sein Geld vom Staat und ist in ständiger Sorge, dass seine Lizenz nicht verlängert wird. Auch darum werden Geschichten gebracht, die dem Staat gefallen sollen – und mit denen sie den Tabloids Konkurrenz machen wollen. Je weiter die anderen nach rechts rücken, desto mehr rückt die BBC hinterher, etwa was den Tonfall in der Berichterstattung über Geflüchtete angeht. Dabei müsste ihre Aufgabe in Zeiten, in denen andere Klicks und Wachstum hinterherjagen, eine andere sein, nämlich einen Schritt zurückzutreten und eine besonders nüchterne, inkludierende Berichterstattung zu machen.
Wie ließe sich das verbessern?
Auch hier helfen Experimente! Es gibt in England einige journalistische Projekte, die in Kooperativen arbeiten. Ihnen geht es nicht um Klicks, sondern darum, glaubwürdige Geschichten zu recherchieren, teilweise lassen sie sich sehr viel Zeit dafür. Sie finden ganz nebenbei heraus, wie man Journalismus heute finanzieren kann, denn die alten Abo- und Werbemodelle wird es nicht mehr lange geben.
Haben Sie Beispiele?
Ich finde Bristol Cable interessant. Das ist eine Kooperative aus jungen Lokaljournalisten, die sich durch ein Mitgliedschaftenprogramm finanzieren. Für 2,5 Pfund im Monat bekommen die Leser sorgfältig recherchierte Reportagen. Es sind nur 2.000 Abonnenten nötig, damit die Sache sich trägt. In Schottland gibt es The Ferret, ein Projekt für investigativen Journalismus, das sich ebenfalls über ein Community-Abo-Modell finanziert. Auch dort fragen sie ihre Mitglieder, welchen Missständen sie auf den Grund gehen sollen – und das baut nicht nur Vertrauen auf, sondern auch eine Stammleserschaft, von der viele große Verlage nur noch träumen können.
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