Wir befinden uns im zweiten Jahr der Corona-Pandemie. Ganz Deutschland ist seit Monaten im Homeoffice. Ganz Deutschland? Nein, Pakete werden weiterhin ausgeliefert. Im Homeoffice wird bestellt, ins Homeoffice wird geliefert, aber das setzt voraus, dass dazwischen jemand draußen unterwegs ist, treppauf, treppab, Hause für Haus, Straße für Straße.
Der Arbeitsdruck für Paketboten ist seit Pandemiebeginn enorm, der Gesundheitsschutz hingegen nicht. Daniel* liefert für DHL Päckchen aus; seinen echten Namen will er nicht veröffentlicht sehen. „Es ist seit April 2020 jeden Tag wie sonst nur kurz vor Weihnachten“, sagt er. „Wir arbeiten ohne Verschnaufpause.“ 15 Prozent mehr Pakete habe DHL im vergangenen Corona-Jahr ausgeliefert. Das bedeutet eine Profitsteigerung für das Unternehmen, von der Daniel aber nichts merkt. Im Gegenteil: In seinem Arbeitsvertrag sind 38,5 Stunden pro Woche vereinbart. „Ich arbeite fast jede Woche eher 60 Stunden“, sagt er. Eigentlich müssten Überstunden ausgezahlt werden. Daniel sagt: „Unsere Vorgesetzten zweifeln an, dass wir Überstunden machen. Wir bekommen die nicht ausgezahlt.“ Und: „Wer versucht, sich dagegen zu wehren, muss mit Sanktionen rechnen.“ Abmahnungen. Oder Kündigungen. Wie sieht es mit Streik aus? „Schwierig. Unsere Betriebsräte unterstützen uns nicht.“ Und mit Hygienemaßnahmen? „Mein Schutz sind ein Wasserkanister und Seife im Auto. Das war’s.“ Die größte Angst machen Daniel die Schichtwechsel: „Unsere Vorgesetzten haben versucht, das zu entzerren, aber beim Beladen der Lkws treffen wir trotzdem alle aufeinander.“
Hans*, der in einem DHL-Verteilerzentrum arbeitet, pflichtet Daniel in vielem bei. Auch für ihn ist der Arbeitsdruck hoch, der Schutz vor dem Virus mangelhaft. „Es gibt eine Maskenpflicht, die streng durchgesetzt wird, und Desinfektionsmittel“, sagt er. Aber: „Bei den Teammeetings können wir keinen Abstand halten. Die Shuttlebusse sind immer voll. An den Rutschen, wo die Pakete ankommen, die ich dann für den Weiterversand verladen muss, stehen oft Zweiergruppen, manchmal auch mehr Leute. Einfach, weil es dann schneller geht.“ Langsamer zu arbeiten ist keine Option für Hans und seine Kollegen: „Die Vorgesetzten weisen uns an, dass wir uns beeilen sollen.“ Er hat Angst: „Wenn ich neben einem Corona-Infizierten arbeiten würde, würde ich mich anstecken. Das ist ein unangenehmes Gefühl, das mich immer begleitet.“ Wäre es solidarisch, das nächste Paket einfach nicht zu bestellen?
* Name geändert
Kommentare 6
60 Stunden statt 38,5! Und dann noch 21,5 unbezahlte. Das sagt ja schon alles.
Würde der Gesetzgeber das Parken in der zweiten Reihe wirkungsvoll verbieten, wäre mindestens in den Großstädten Feierabend mit diesem online-shopping samt Wohnungstürlieferung und den damit zusammenhängenden skandalösen Zuständen.
Aber der mündige, solidarische Kunde wurde noch nicht erfunden.
Das ist perfekte Ausbeutung, die das Goldkettchen vor knapp 20 Jahren organisiert hat. Können Sie sich von dem Geld, was Sie für diesen Artikel bekommen haben, ein Abendessen leisten?
Entschuldigung! Eine dumme Frage, weil die Restaurants aktuell alle geschlossen sind.
>>Aber der mündige, solidarische Kunde wurde noch nicht erfunden.<<
Und der denkende auch nicht. Ich kenne zum Beispiel eine Frau, die zwar wegen der Gerüchte über die Bargeldabschaffung Sorgen macht, aber Bestellungen via Internet, Bezahlung dito und Frei-Haus-Lieferung für unverzichtbar hält.
"Der" Mensch ist i.d.R. halt nicht wirklich rational und von ausufernder Vernunft geleitet. Und daran wird sich auch nichts ändern, denke ich mal.
Mal sehen, was die dritte Welle Corona bringt? Das wird mindestens so interessant wie das Verhalten bei der eventuell ja eines Tages doch mal stattfindenden Öffnung aller Geschäfte usw. Steigende Preise kündigen die Firmen und Händler schon jetzt an.
Ein Interview mit zwei Betroffenen macht noch keinen guten Journalismus.
Weniger Warensendungen zu bestellen ändert (fast) nichts an den prekären Arbeitsbedingungen der Branche.
Es braucht Solidarität unter und mit den Betroffenen und den Mut für die Rechte der Schwachen zu kämpfen. Änderungen der Konsumgewohnheiten bringen in diesem Fall eher wenig.
Mehr Bestellungen ändern an den Verhältnissen der Fahrer nichts. Weniger aber eben auch nicht. Was tun?
Wo ist sie, diese Solidarität? Warum gibts die nicht?
Hier mal ein hübsches Beispiel, was mit Solidarität möglich ist:
https://www.youtube.com/watch?v=hZL7TqSeDus