Von Athen und Berlin

Interview Moritz Springer, einer der Regisseure der Dokumentation „Projekt A“, bringt uns anarchistische Bewegungen in Europa näher
Ausgabe 05/2016

der Freitag: Herr Springer, wie kommt man im Jahr 2015 auf die Idee, einen Film über Anarchismus zu machen?

Moritz Springer: Die Idee liegt noch länger zurück. Ich habe 2008 den Anarchisten Horst Stowasser kennengelernt. Er hat mich so beeindruckt, dass ich Lust auf einen Film über ihn bekommen habe.

Warum?

Stowasser war ein extrem lebensfroher Mensch, der Zigarre geraucht und Rotwein getrunken hat. Das fand ich gut. Die Lebensqualität sollte bei der Revolution nicht verloren gehen. Zudem konnte er einem den Anarchismus als echte Alternative zum Kapitalismus, als funktionierendes Gesellschaftsmodell vermitteln. Der Begriff ruft ja bei vielen Menschen falsche Assoziationen hervor. Stowasser hat das bei seinem Vortrag aber so gut rübergebracht, dass eine alte Frau im Publikum sagte: „Wenn das Anarchismus ist, bin ich auch Anarchistin.“

Stowasser kommt in dem Film aber nicht vor.

Leider nicht. Er ist kurz danach überraschend an einer Blutvergiftung gestorben. Marcel Seehuber, der mittlerweile mit an Bord war, und ich haben nach kurzer Sinnkrise trotzdem weitergemacht. Wir wollten anarchistische Projekte in Europa vorstellen und zeigen, dass das Thema noch relevant ist. 2011 haben wir angefangen zu drehen.

Zur Person

Moritz Springer, geboren 1979 in Starnberg, ist seit 2002 als freier Dokumentarist tätig. Projekt A, der Film, den er zusammen mit Marcel Seehuber gedreht hat, ist ab dieser Woche in verschiedenen deutschen Kinos zu sehen. Eine Liste der Spielstätten unter: bit.ly/1ZTcbuH

Foto: Filmfest München

In Exarchia, dem anarchistischen Stadtteil Athens, werden Aktivisten gezeigt, die einen ehemaligen Parkplatz besetzt und zu einem selbstverwalteten Garten, dem Parko Navarinou, gemacht haben.

Exarchia ist sehr spannend. Die anarchistische Bewegung in Griechenland ist relativ jung. Die Krise dort hat ganz neue Realitäten geschaffen. Es herrscht extrem hohe Arbeitslosigkeit, den Menschen fehlt Geld an allen Ecken, viele haben keinen Zugang mehr zur Gesundheitsversorgung, auch sonst herrscht Mangel. Die Leute dort machen ihrer Wut Luft. Aus dieser Energie des Dagegenseins entstehen aber auch viele schöne Dinge. Die wollten wir zeigen.

Die Radikalität in Exarchia rührt aber nicht nur aus Finanzkrise und Austeritätspolitik, sondern auch aus der Belagerung des Stadtteils durch die Polizei.

Die Aktivisten sind der Polizeiwillkür und -brutalität ausgesetzt. Viele wurden von Polizisten zusammengeschlagen, andere über Tage eingesperrt oder unverhältnismäßig verurteilt. Das ist in Griechenland an der Tagesordnung.

In Katalonien ist der Anarchismus dagegen verwurzelt wie in keiner anderen Gegend Europas.

Wir wollten der Erfolgsgeschichte des Anarchismus bis zum vorläufigen, blutigen Ende im Spanischen Bürgerkrieg nachspüren. Damals wurden ganze Fabriken anarcho-syndikalistisch organisiert. Das war eine große, in der Bevölkerung verwurzelte Bewegung. Es war uns wichtig, zu zeigen: Der Anarchismus ist kein neues Phänomen, den gibt es schon lange, und er kann solide Dimensionen annehmen. Das ist wahnsinnig beeindruckend. Schon klar, warum die Zeit von der Linken so glorifiziert wird.

Wie verbreitet ist die anarchistische Geschichte in der spanischen Bevölkerung weiter rechts?

Ich weiß nicht, wie das bei den Jungen ist, aber die Älteren erzählen gern davon. Wenn du hier einen 60-Jährigen auf Anarchismus ansprichst, denkt der an brennende Mülltonnen, viele Spanier an funktionierende Selbstverwaltung.

Wie sieht das heute aus?

Die anarcho-syndikalistische Gewerkschaft CGT hat 60.000 Mitglieder und vertritt noch mehr Menschen. Es gibt bis heute keine Funktionäre, entschieden wird basisdemokratisch.

Gibt es auch jüngere Gruppen?

In Protestbewegungen wie Movimiento 15-M sind viele Anarchisten organisiert gewesen. Didac, einer der Aktivisten aus dem Film, war ab 2011 bei den Massenprotesten dabei. Der Anarchismus ist in Spanien stark verwurzelt, er schwingt als Idee oder Struktur mit, auch wenn nicht direkt davon gesprochen wird.

So wie in der Cooperativa Integral Catalana, der CIC, einer basisdemokratischen Organisation.

Die CIC-Mitglieder arbeiten eher an einer Transformation der Gesellschaft. Ihnen geht es darum, der bestehenden eine Alternative entgegenzusetzen. Das machen sie auf der monetären, sozialen, gesundheitlichen und ökonomischen Ebene. Sie scheuen sich aber auch nicht, gesetzliche Lücken auszureizen. Erfolgreich. CIC-Projekte sind über das ganze Land verteilt und miteinander vernetzt.

In Deutschland zeigt der Film die Öko-Aktivistin Hanna: bei der Sabotage, bei einer Castor-Demonstration.

Das war super, weil Hanna uns eingebunden hat und uns die anderen dadurch auch vertraut haben. Wir mussten uns mit denen im Vorfeld koordinieren: Wo und wann findet das Ganze statt? Wo trifft man sich? Wir haben dafür über verschlüsselte E-Mails kommuniziert. Uns wurde gesagt, was wir am Telefon sagen dürfen und was nicht.

Hanna ist streitbar. Damit macht sie sich nicht nur Freunde.

Das ist immer so, wenn Menschen sich für was einsetzen, für etwas stehen und dann im Rampenlicht landen. Aber dadurch erreicht Hanna auch die bürgerliche Mitte. Sie versucht, viele Leute mitzunehmen, war schon Gast bei Maischberger oder anderen Talkshows. Das finden nicht alle gut.

Die Sabotageakte der Öko-Aktivisten sind harmloser als das, was in Griechenland geschieht.

Das stimmt. Gerade bei der Szene, in der Hanna sich an Gleisen festkettet, um von der Staatsmacht losgemacht zu werden, war es lustig, zu sehen, wie eingespielt die Rollen sind. Die Polizisten grüßen höflich, bevor sie zur Tat schreiten, während Hanna schon weiß, worauf sie beim Losgeflextwerden achten muss. Jedem ist klar, was er darf und was nicht. Das wird zwar auch immer wieder ausgereizt, und es gibt auf beiden Seiten unverhältnismäßiges Verhalten. Aber doch anders als in Griechenland.

Gibt es in Deutschland ähnlich radikale Strukturen wie in Spanien oder Griechenland? Hier zeigt der Film nur Öko-Projekte.

Im Gegenteil: Allein die Menge an Hausprojekten, Gemeinschaftsgärten und Kiezläden, die es in Berlin gibt – davon träumen die in Athen. Und vieles, was dort radikal ist, sieht hier eben anders aus, weil es weniger Not und Repression gibt.

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