Schrecken ohne Ende?

Sachsen Neonazis, Hooligans und die Bürger*innen von nebenan – in Chemnitz verläuft die rechte Mobilisierung wie nach dem Lehrbuch

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Chemnitz
Chemnitz

Foto: Sean Gallup/Getty Images

Als am Samstag das Chemnitzer Stadtfest veranstaltet wurde, rechnete wohl kaum jemand damit, dass dieses in derartigen Bildern enden könnte. Bilder wie die von etwa 1000 durch die Stadt marschierenden Rechtsradikalen – unter ihnen ein Großteil rechter Hooligans –, die offen Jagd auf Menschen machten, die nicht in ihr Bild passten, nicht „deutsch“ genug waren. In Videos, die mit Handys aufgezeichnet wurden, sind Sätze zu hören wie „Für jeden toten Deutschen einen Toten Ausländer“ oder „Deutschland den Deutschen – Ausländer raus.“

Was war dem vorausgegangen? Anlass für die Ereignisse des Sonntags war vorgeblich der gewaltsame Tod eines 35-jährigen auf dem Chemnitzer Stadtfest. Dieser war in einer Auseinandersetzung tödlich mit einem Messer verletzt worden. Was darauf folgte, ist ein Paradebeispiel für eine rechte Vereinnahmung und Instrumentalisierung derartiger Ereignisse. Statt den Tod eines Menschen zu betrauern, wird dieser von rechten Akteuren instrumentalisiert, um weiter Stimmung zu machen gegen vermeintlich kriminelle Migrant*innen. Dass es hier keine Sekunde um das tatsächliche Gedenken an den Verstorbenen ging, sondern reinweg darum, dass dieser Deutscher war, wird spätestens dann erkennbar, wenn der Umstand mit einbezogen wird, dass das Opfer selbst sich dem Vernehmen nach gegen Rechts positionierte.

Schaut man als progressive Person auf die Ereignisse des Montagabend, bietet sich einem ein schwer erträgliches Bild: Tausende gewaltbereite Rechte versammeln sich nach dem Aufruf der rechten Bürgerbewegung „Pro Chemnitz“ unter dem Antlitz des gigantischen Karl-Marx-Monuments, um dort eine Kundgebung abzuhalten. Kleine und größere Gruppen von Neonazis bewegen sich frei durch die Stadt, greifen immer wieder willkürlich auserkorene „Feinde“ an, während die Polizei nur marginal anzutreffen ist.

Zusammen was zusammen gehört

Doch wer waren die Menschen, die am Sonntag und am Montag auf die Straße gingen, um den Tod einer Person politisch zu instrumentalisieren? Erkennbar war klar: die Trennung rechter Milieus lässt sich nun mehr lediglich auf dem Papier präzise vornehmen. Die letzten Tage in Chemnitz haben dies erneut unter Beweis gestellt. So fanden sich auf der einen Seite Mitglieder der „Identitären Bewegung“ aus Halle und Leipzig in Chemnitz ein, welche stets darum bemüht sind, sich des Bildes des militanten Neonazis zu entledigen und Rassismus unter dem Deckmantel vermeintlicher Intellektualität zu tarnen. In Chemnitz aber stehen eben jene Rechtsradikalen Seite an Seite mit „klassischen“ neonazistischen Hooligans, NPD-Funktionären und Kameradschaftsmitgliedern.

Dass diese Bilder sich auf den Tag genau 26 Jahre nach den Pogromen von Rostock-Lichtenhagen abspielen, bei denen Asylheime von johlenden Massen in Brand gesetzt wurden, ist bezeichnend. Eine alarmierende Tendenz hinsichtlich rechter Gewaltausbrüche lässt sich zudem auch in den Vorkommnissen der letzten Jahre erkennen. Zu nennen wären hier unter anderem die Ausschreitungen gegen eine Geflüchtetenunterkunft in Heidenau im August 2015 oder die Hetzjagden auf Geflüchtete im September 2016 in Bautzen. Kurzum: die Grenzen des Sagbaren wie auch die Ausmaße der realen Konsequenzen haben sich in Sachsen erneut verschoben. Abzuwarten bleibt, inwiefern die Ereignisse in Chemnitz diesen Trend fortschreiben werden.

Besonders auffällig ist die großflächige Mobilisierung in derart kurzer Zeit, neben der Parallele zu den Ereignissen der 1990er Jahre: die wiederkehrende Vermischung rechter Milieus mit einer „unauffälligen“ städtischen Zivilbevölkerung. Doch muss man sich auch hier die Frage stellen, wie es möglich war, in derart kurzer Zeit eine Menschenansammlung dieser Größenordnung auf die Beine zu stellen. Hierzu lässt sich unter anderem festhalten, dass es wohl besonders die involvierten Hooligan-Strukturen waren, die überregional wie auch lokal bestens vernetzt sind.

Spätestens auf dem Weg zur angemeldeten Kundgebung des Bündnisses „Chemnitz Nazifrei“ wurde das auch am Montag in Chemnitz schnell klar. So waren im gesamten Stadtgebiet versprengte größere und kleinere Trupps von Neonazis unterwegs, welche bis spät in die Nacht immer wieder Übergriffe auf vermeintliche Migrant*innen und Linke verübten. Auch die Stimmung auf der Kundgebung war von Beginn an angespannt, stand man doch einer Überzahl gewaltbereiter Personen gegenüber, welche jegliche Gelegenheit nutzten, um zu stören oder anzugreifen. So dauerte es nicht lang, und aus der Versammlung von „Pro Chemnitz“ flogen – unter den Augen der Polizei – Böller, Glasflaschen und weitere Pyrotechnik in die Gegenkundgebung.

Der Wille zum politischen Unwillen

Dass es am Abend dann nicht zu größeren Vorfällen kam, ist auch in Anbetracht des Agierens der Polizei tatsächlich ein Wunder. Bereits die vorausgehenden Einschätzungen der Behörden bezüglich der Teilnehmendenzahl auf Seiten der Veranstaltung von „Pro Chemnitz“ ließen schnell erkennen, dass jene die Situation unterschätzten. Aus den von ihnen erwarteten 2000 Teilnehmenden wurden 5000 bis 8000 Demonstrant*innen auf der rechten Veranstaltung sowie 1500 auf Seiten der Gegendemonstrant*innen. Die wenigen hundert Polizeibeamt*innen im Einsatz verwundern daher. Man habe die Situation unterschätzt, gestand später auch der Sprecher der Polizei Chemnitz, Andreij Rydzik, ein. Zu Recht weisen derzeit viele Journalist*innen sowie Aktivist*innen in den sozialen Netzwerken darauf hin, dass es der Polizei Sachsen in andern Fällen nie besonders schwer fiel, mit einem massiven Aufgebot von Beamt*innen und Material vor Ort zu sein. Von einer Taktik der Polizei am Montag Abend kann demzufolge keine Rede sein. Ganz im Gegenteil, sie kann als politischer Unwille gedeutet werden. Auch die sehr verspätete Äußerung des sächsischen Ministerpräsidenten Kretschmer muss man in diesem Fall als politisches Statement auffassen, welches sich nur zu gut einpflegt in die Politik der CDU in Rückblick auf die letzten 30 Jahre in Sachsen.

Alte Probleme in neuer Auflage

Die Frage „Warum ausgerechnet Chemnitz?“ wird in den sozialen Medien immer und immer wieder aufgeworfen. Sicher ist diese nicht einfach zu beantworten, einige wichtige Faktoren lassen sich jedoch benennen. Zunächst lässt sich konstatieren, dass die Stadt Chemnitz auf eine lange Geschichte neonazistischer Strukturen zurückblicken kann, in den 1990er Jahren gar als rechte Hochburg galt. Regelmäßige Rechtsrockkonzerte und ein umtriebiges „Blood & Honor“-Netzwerk sind nur ein Teil der Auswüchse dieser Zeit. Es ist nicht verwunderlich, dass auch das rechte Terrornetzwerk – der „Nationalsozialistische Untergrund (NSU)“ – guten Kontakt in die Stadt pflegte und letztlich auch hier temporär untertauchte. Die Strukturen von damals haben sich mit Nichten in Luft aufgelöst und Neonazis proben alltäglich eine rechte Raumnahme.

Befördert wird dies zusätzlich durch eine verharmlosende Politik des Wegschauens und Kleinredens. Denn dass Chemnitz ein Problem mit militanten Neonazis hat, das ist offensichtlich.

Auch eine soziale Abgehängtheit, welche sich in maßiver Arbeits- und Perspektivlosigkeit äußert, darf bei der Herleitung einer Antwort auf die Frage nach dem Ort des Geschehens nicht außer Acht gelassen werden. In Kombination dieser drei Faktoren ergibt sich so eine Lebenswelt, welche in Chemnitz nicht nur einige wenige miteinander teilen.

Potenzielles neues Unheil?

Doch wie wird es nach den Vorfällen der letzten Tage in Chemnitz weitergehen? Eine große Befürchtung besteht darin, dass es nicht bei turbulenten 48 Stunden bleiben wird, sondern dass die rechten Strukturen vor Ort sich wieder langfristig bestärkt fühlen in ihren Positionen und Praxen. Bereits am nächsten Tag, Dienstag, fand in Dresden organisiert von den „Patriotischen Europäern gegen die Islamisierung des Abendlandes (PEGIDA)“ eine Demonstration gegen den sächsischen Landtag statt. Auch für das kommende Wochenende kann es keine Entwarnung geben, denn die „Alternative für Deutschland (AFD)“ und PEGIDA mobilisieren erneut überregional zu einem „Trauermarsch“ nach Chemnitz. Ob sich diese Formate langfristig in Chemnitz behaupten können, bleibt abzuwarten.

Fest steht: die Zeiten stehen gut für einen faschistischen Rollback. Erkennbar wird dies besonders an der Causa Chemnitz. Wo sich „normale“ Bürger*innen mit gewaltbereiten Hooligans und Hitlergruß zeigenden Neonazis auf die Straße begeben, um „gegen Gewalt“ zu demonstrieren – damit aber eigentlich bloß ein Deckmantel über ihre wahren, nämlich rassistischen Anliegen legen. Fest steht auch: der Staat hat sich am Montag in Sachsen zurückgezogen, in dem er wohl wissend tausende Nazis hat durch die Stadt marodieren lassen, während die Polizei in lächerlicher Unterzahl auftrat. Und fest steht: Nazis können wieder offen auftreten, ohne Angst vor direkten Konsequenzen haben zu müssen. Die bloße Zahl an Hitlergrüßen, Morddrohungen und Gewaltausbrüchen unter den Augen der wenigen anwesenden Polizist*innen spricht eine deutliche Sprache.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.

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