Streite, die man nicht schlichten will

Cannes 2014 Zwei Frauen graben sich in Oliver Assayas famos vielschichtigem Sils Maria in ihre Psyche ein und brechen aus der Erzählung aus

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Kristen Stewart als Valentine
Kristen Stewart als Valentine

Bild: CG Cinema

Manche Diskussionen dürfen nie zu Ende gehen. Egal, wie oft sie im Einzelfall geklärt schienen, wie schlüssig die eine oder andere These widerlegt wurde. Sie müssen erhalten bleiben, damit jede(r) von uns irgendwann einmal in ihnen Position beziehen, sie mit zeitgemäßen Begriffen, mit drängenden Fragen auskleiden darf. Um für etwas und gegen jemanden zu streiten. Und um dann, vielleicht, nach Jahren, auf der anderen Seite anzulangen und sich umgekrempelt wieder selbst zu begegnen.

Aufbewahrt werden solche zutrittsoffenen Diskussionen am besten in den Figuren der Kunst, im Roman, im Theater, auf der Leinwand. Mächtige gegen Unterdrückte, Träumer_innen gegen Faktenmenschen, Verliebte gegen Neider, oder, ganz oft: Die Alten gegen die Jungen. Zum Beispiel in Oliver Assayas' Sils Maria.

Der letzte Wettbewerbsfilm der diesjährigen Filmfestspiele von Cannes ist eine doppelbödige Affäre, die eine der klassischsten aller dramatischen Konfliktkonstellationen – das Unvernehmen zwischen den Generationen – einerseits auffrischt und diese zugleich in Klammern setzt, weil er über Funktion, Wirkung und Sinn derart gelagerter künstlerischer Auseinandersetzung reflektiert.

Juliette Binoche spielt Maria Enders, eine mittelalte Schauspielerin, die sich mit ihrer Personal Assistant Valentine (verkörpert von, was hier nicht unwichtig ist, Twilight-Star Kristin Stewart) im schweizerischen Engadin auf eine Rolle vorbereitet. Der Autor des Stücks war einst Enders' Mentor, doch er nimmt sich gleich zu Filmbeginn das Leben. So geistert die Vergangenheit durch sein in Bergeseinsamkeit verlorenes Häuschen, wo die beiden Frauen ganz langsam bemerken, dass die Textproben sich immer tiefer in ihre Psychen graben. Das Stück im Film erzählt davon, wie eine ältere, mächtige, aber zweiflerische Firmenchefin ihrer blutjungen, aber vor Selbstbewusstsein strotzenden Untergebenen verfällt. Früher hat Maria natürlich das Objekt der Begierde gespielt, aber jetzt will sie ein eitler Theaterregiesseur (Lars Eidinger) neben einer amerikanischen Skandalnudel à là Lohan/Cyrus/Gaga auftreten lassen.

In den langen, intimen Zweierszenen zwischen Binoche und Stewart, beim Gleiten von Text zu Rolle zu außerfilmischer Starpersona, verschieben sich die Orientierungspunkte ohne Unterlass. Ein bisschen, wie Alain Resnais' Ihr werdet euch noch wundern (2012) bereits davon erzählte, dass Theaterfiguren die Herrschaft über die sie verkörpernden Schauspieler gewinnen können, wird Maria (und damit auch Binoche) hier allmählich von ihrer Rolle in die Knie gezwungen. Immer erratischer wird ihr Verhalten, immer begehrlicher ihre Blicke auf den Körper der anderen, die wiederum immer verwirrter und distanzierter wird, weil ihr bald nicht mehr klar sein kann, wo das Theaterstück aufhört und das wirkliche Leben beginnt.

Aber nie werden die Fronten allzu deutlich, dafür lacht die Mittelalte viel zu herzhaft über ihre eigenen Qualen, dafür googled sie zu selbstvergessen mit dem iPad nach Klatschinfos über ihre baldige Bühnenpartnerin („It's not gossip, it's information!“), dafür ist auch Stewarts Figur viel zu ambivalent, bleibt gefangen zwischen den Rollen der Lesepartnerin und der ihre Chefin verehrenden Zuarbeiterin. Sils Maria erzählt vom Älterwerden, vom Ringen der Generationen in zweiflerischen, suchenden Schleifen, und er entscheidet sich für keine Seite. Eher affirmiert er die prinzipielle Notwendigkeit, sich derart miteinander auseinanderzusetzen. Denn nur in Bezug auf eine(n) Andere(n) kann unser Selbstbild Konturen gewinnen, und es muss immer wieder nachgezeichnet werden, weil es sonst im Klischee verläuft.

Das ist eine subtile, aber deutliche Bekenntnis heutzutage, da die in Reichtum und Frieden aufgewachsene junge Generation (in Amerika wie in Europa) als konfliktscheu, anbiedernd, ja konformistisch verschrieen wird. Assayas setzt damit so etwas wie ein Projekt fort, denn schon Die wilde Zeit warf sich anfangs mit Haut und Haaren in die Ereignisse nach 1968, träumte noch einmal die aktivistischen Umsturzträume, um den Körpern dann beim Älterwerden, den politischen Hoffnungen beim Verhärten, der Solidarität beim Zerbröckeln zuzuschauen. Aber dabei schmeckte nichts nach Altersweisheit, da war nur der Wunsch, dass man wieder stark empfinden, wieder begeistert kämpfen können sollte. Und so entdeckt Valentine, in einer Art Gegenbewegung zu Die wilde Zeit, erst allmählich ihre Aufmüpfigkeit. Sie, die der arrivierten, geachteten Schauspielerin aufopfernd hilft, die wie alle Jüngeren in diesen retromanischen Zeiten mehr in den Moden und Themen der Vergangenheit denn der Gegenwart beheimatet ist, sie emanzipiert sich, erkennt den Selbstwert ihrer eigenen Epoche.

Die Diskussion brodelt hier noch – oder wieder, als wäre sie nicht schon zigtausendemale geführt worden. Und sie verästelt sich hinein in allerlei kulturkritische und philosophische Abzweigungen. Einmal steigen die beiden Frauen von ihrem Berg hinab und schauen sich im Kino den neuen Sci-Fi Film des Starlets, das Maria sonst nur von Paparrazi-Fotos her kennt, an. Allein diese Szene, in der Assayas ein bisschen schräg-fassbinderhaft das zeitgenössische Superheldenkino imaginiert, ist großartig wie augenzwinkernd. Aber wirklich spannend wird es hinterher, wenn Maria und Valentine bei Bier und Burger über den Film reden. Die Ältere kann Stories mit Mutanten und Superkräften nicht ernst nehmen, die Jüngere pocht darauf, dass sich in ihnen die gleichen Gefühle, die gleichen Konflikte ausdrücken wie in den Produkten der sogenannten Hochkultur. Natürlich diskutieren da auch das europäische Arthauskino und der amerikanische Blockbuster miteinander, vermittelt über ihre Avatare Stewart und Binoche.

Das ominöse Theaterstück des Filmes ist nach einem Wetterphänomen benannt: Immer im Herbst ergießen sich von Südwesten her, vom Maloja-Pass, endlose Wolkenformationen über den Sils-See. Man nennt sie die Maloja-Schlange. Aby Warburg hielt einst eine berühmte Rede über den Mythos der Schlange, der nach seinem Dafürhalten in vielen Kulturen davon erzähle, wie die Angst in Symbole gebannt werden kann. Der biologische Feind, das giftige Geschöpf, es wird in Erzählungen und Ritualen gebunden, damit man seinen Gefahren entgegentreten kann. Ganz ähnlich erzählt das Theaterstück in Sils Maria, wie wir uns über Kunstfiguren mit den Tiefenschichten der eigenen Psyche konfrontieren können. Einmal füllen auch Szenen aus Andreas Fancks Das Wolkenphänomen vom Maloja (1924) die Leinwand. Ihr Mann habe den Film geliebt, sagt die Witwe des enigmatischen Theaterautors (Angela Winkler). Weil sich erst im Bild die Wahrheit des Naturschauspiels zeigen würde. Auch so eine endlose Debatte: die Wirklichkeit, unser Bild von ihr, der Graben zwischen beiden... Assayas trägt mit Sils Maria seinen Teil dazu bei, dass sie, und viele andere, uns noch lange bewahrt bleiben.

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