The Long Road Home

Cannes 2014 Tommy Lee Jones' Cannes-Beitrag The Homesman bricht mit den traditionellen Grundbausteinen des Westerngenre

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The Long Road Home

Bild: Universum Film

Etwas fehlt in den Landschaftspanoramen von The Homesman: der Horizont hat keine Silhouette. Keine Sandsteinformationen à là Ford, keine felsigen Sierra-Madre-Züge à là Leone, sondern nur immer wieder schnurgerade, höhenlose Risslinien zwischen wildem Himmel und wüstem Land, Blickwinkel in eine Unendlichkeit ohne Lockruf. Es sind Wahnsinnsregionen, uneinladend und rau. Ein einziger harter Winter kann hier einer Familie alle Kinder wegraffen, die Alten meucheln, die Herden dezimieren. Für drei Frauen bedeutet das in Tommy Lee Jones' zweiter Regiearbeit den psychischen Kollaps. Eine wirft ihr Neugeborenes ins Abort, eine andere sticht sich die Nähnadel in die Brüste, die dritte wird katatonisch. Jones zeigt das in stark stilisierten Storyminiaturen, als kurze Episoden seelischen Verfalls, so knapp wie brutal und ganz unverbunden hintereinander montiert.

Die kleine örtliche Gemeinde beschließt, dass die Frauen zur seelischen Wiederaufrichtung zurück zu ihren Familien gebracht werden müssen, und als Treckführerin wird die ledige, erfolglos um etwas kulturelle Gediegenheit bemühte Farmerin Mary Bee Cuddy (Hillary Swank) ausgewählt. Beim Einsammeln ihrer Nutcases findet sie unter einem Baum den ältlichen Eigenbrötler George Briggs (Jones selbst), mit einer Schlaufe um den Hals auf einem Pferd sitzend: Er ist sowas wie ein Hausbesetzer im Wilden Westen, der sich in verlassenen Farmen einnistet und das übrig gebliebene Vieh frisst, was den Nachbarn verständlicherweise sauer aufstößt. Cuddy schneidet den Strick durch und heuert ihn als Helfer für ihren ungewöhnlichen Krankentransport an.

Man könnte sagen, dass The Homesman einige Lücken im filmisch-kulturellen Gedächtnis Amerikas stopft, denn selbst Genderrollen verschiebende und erzählerisch indiemäßig organisierte Alt-Western wie Kelly Reichardts Meeks Cutoff waren in letzter Instanz immer auch Erfolgsgeschichten. Die Westverschiebung der Frontier forderte Opfer, klar, zuallererst unter den genozidal dezimierten Natives, aber sie folgte doch einer unumkehrbaren Logik, penetrierte das Land immer tiefer, etablierte das, was die Siedler größenwahnsinnig "Zivilisation" nannten immer weiträumiger - weshalb der Begriff im amerikanischen Englisch seither einen negativen Beigeschmack hat. Nicht so in The Homesman, der die binäre Survive-or-Die-Logik des Westerns um eine dritte Option erweitert: Umdrehen. Zumindest für die drei Frauen ist der Weg in den Westen ein Weg des Scheiterns gewesen, und auf dieses Scheitern folgt nicht die Bewegung further west, sondern die viel naheliegendere back east.

Es ist ein bisschen schade, dass Jones' bei weitem nicht alles aus seiner smarten Storyanlage herausholt. Statt den drängenden, fiebrigen Modus seines Debüts Three Burials (ebenfalls ein Neo-Western) fortzuschreiben, geht The Homesman stimmungsmäßig eher die Richtung versöhnlichen Humors. Die Reise des Trecks durch die abwechselnd von Eistürmen überwehten oder in der Sonne gebackenen Endlosebenen macht hier und da Pause für ein paar Sketche. Tim Blake Nelson hat einen Slapstickauftritt als frauenraubender Trapper, und die Beziehung zwischen der hochnäsig ihre fortgeschrittende Jungfernschaft unterdrückenden Cuddy und dem etwas vag kumpelhaft gezeichneten Briggs produziert einiges an trockenen Einzeilern und verdrucksten Annäherungsversuchen. Humor kann ernsthaften Anlagen größere Tiefe verleihen, wenn er den Themen ihre Vehemenz nimmt und sie komödiantisch radikalisiert; aber er kann ebenso schaden, wenn er ihre Dringlichkeit relativiert. The Homesman pendelt zwischen beiden Momenten, und findet nach der schlicht großartigen Exposition dann leider erst zu spät und in allzu kitschigem Modus wieder zu unumwundener Ehrlichkeit.

An anderer Stelle allerdings reichen die Probleme des Filmes noch weiter: So schön es ist, wie nachdrücklich The Homesman die Situation der Frauen und Fragen der geistigen Gesundheit in ein diesen Themen eher ignorantes Genre einschreibt, so bleibt er ihm doch ziemlich verhaftet in der Ratlosigkeit, mit der er die Sache der Indianervertreibung behandelt. Zwar ist spürbar, dass Jones diesen Diskurs nicht scheuen will: einmal lässt er ein paar wild geschminkte Ureinwohner den Treck beäugen, dann darf Briggs sich alkoholgelockert in selbstmitleidiger Erinnerung an ein Massaker erinnern, bei dem er als Soldat mitmachte. Aber das bleiben ambivalente, uneindeutige Gesten. Die Erweiterung des archetypischen Figurenarsenals des Westerns um komplexe Frauencharaktere (was in der Vergangenheit ja auch schon häufiger passiert ist) und zivilisationskritische Töne (ebenso) wird nicht begleitet von einer analogen Öffnung für die Belange der nativen Bevölkerung. Die Aufhebung einer (sexuellen) Ausgrenzung funktioniert leider nur über die Festschreibung einer weiteren (rassistischen).

Das wird augenfällig in einer späten Szene: Als Briggs die Frauen endlich aus den Wüsteneien des Dust Belt befreit hat und sie den Missouri überquert haben, kreuzt als erste Bewegung ein mit afrikanischstämmigen Sklaven beladener Karren das Bild. Jones' hat diese Metonomyie für die segregierte Südstaatengesellschaft natürlich nicht zufällig dahin gesetzt, aber es bleibt bei dieser kurzen, beiläufigen, schweigenden Prozession. Natürlich muss kein Film alle Fragen klären, aber warum überhaupt schwierige Diskurse aufwerfen, um sie dann reichlich unbeackert liegen zu lassen? So hinterlässt der Film Unschslüssigkeit: Ganz offensichtlich sind die Ambitionen vorhanden, aber irgend etwas stimmt nicht mit der Gewichtung. Das macht The Homesman zu einem unebenen, aber vielleicht auch gerade deshalb diskussions- und sehenswerten Eintrag in die Traditionslinie des nimmersterbenden Westerngenres, dieser mythischen Wundheilung amerikanischer Amnesien.

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