Mit der Kraft einer Suchtkrankheit

Interview Der Neurobiologe Joachim Bauer erklärt, warum unser Gehirn nach gesellschaftlicher Anerkennung hungert
Ausgabe 01/2016

der Freitag: Herr Bauer, Sie haben in Ihrer Forschung immer wieder gezeigt, dass der Mensch aus neurobiologischer Sicht auf Kooperation angelegt ist. War es Ihnen als Wissenschaftler ein Anliegen, mit der weit verbreiteten Annahme aufzuräumen, der Mensch sei ein rücksichtsloser Egoist?

Joachim Bauer: Die subjektiven Anliegen von Wissenschaftlern sollten bei der Klärung wissenschaftlicher Fragestellungen möglichst keine Rolle spielen. Ich bin aber eher Pessimist: Wir leben in einer Welt voller Aggression und haben gute Chancen, uns als Spezies auszulöschen. Die Frage ist, ob dies als Folge eines dem Menschen innewohnenden Aggressionstriebs unweigerlich so sein wird oder ob es Umstände gibt, die wir gestalten können.

Welche Umstände haben den Menschen denn so weit getrieben, dass er sich zunehmend als konkurrierendes Wesen versteht und Bilder wie der Homo oeconomicus entstanden sind?

Der Homo oeconomicus ist ein Produkt der Sesshaftigkeit, die erst vor 12.000 Jahren ihren Anfang nahm. Sie war für die Menschen einer der grundlegendsten Einschnitte. Sie bedeutete die Erfindung des Grundeigentums und des Menschen als Arbeitskraft – und damit den Beginn der Vermessung des Menschen nach der Arbeitsleistung. Sesshaftigkeit, Ackerbau, Viehzucht und Hausbau hatten Ungleichheit zur Folge und eine permanente Konkurrenz um die erwirtschafteten Ressourcen. Plötzlich war Schluss mit den relativ egalitären Gesellschaften der Jäger und Sammler.

Wie kommen wir heute damit zurecht?

Der moderne Mensch lebt in einem Dilemma: Biologisch gemacht sind wir als Lebewesen, die sich eine gute Gemeinschaft wünschen und ohne soziale Akzeptanz krank werden. Demgegenüber zwingt uns die Welt mit begrenzten Ressourcen zu harter Arbeit, vor allem schafft sie – wenn nur das Recht des Stärkeren gilt – Konkurrenz und Ungleichheit. Die Folge sind soziale Desintegration, Aggression und Krieg.

Zur Person

Joachim Bauer, 64, ist Neurobiologe, Psychosomatiker und Professor an der Universität Freiburg. Zuletzt erschien von ihm: Selbststeuerung. Die Wiederentdeckung des freien Willens (Blessing)

Foto: Joachim Bauer

Sie haben beschrieben, wie Kooperation unser Motivationszentrum im Gehirn anregen kann.

Motivation und Lebensfreude setzen zwingend die Präsenz von Botenstoffen voraus, die durch die Motivationszentren des Gehirns produziert werden müssen. Zu einer Aktivierung kommt es, wenn Menschen Zuwendung, Akzeptanz, Zugehörigkeit erleben. Kürzlich an der Harvard-Universität durchgeführte Experimente zeigen, dass die Motivationssysteme bereits anspringen, wenn Menschen erleben, wie andere ihnen zuhören.

Kann also schon ein Lächeln die Kooperationsbereitschaft meiner Mitmenschen steigern?

Ja, davon versuchen wir seit Jahren Lehrer in Schulen und Vorgesetzte am Arbeitsplatz zu überzeugen.

Wenn Kooperation solche positiven Gefühle hervorruft, könnten wir davon doch abhängig werden ...

Das Verlangen nach sozialer Akzeptanz hat die Kraft einer Suchtkrankheit. Leider schützt uns das aber nicht davor, uns die Köpfe einzuschlagen. Menschen, die sich ausgegrenzt fühlen, reagieren aggressiv und sind bereit, für die Zugehörigkeit zu einer Gruppe auch Böses zu tun. Nach diesem Prinzip funktionieren viele, die etwa terroristische Anschläge begehen.

Letztlich sind es chemische Prozesse im Gehirn, die Gefühle auslösen und über unser Empfinden bestimmen. Inwieweit hat es der Mensch selbst in der Hand, wie er sich anderen gegenüber verhält?

Das menschliche Gehirn macht aus Psychologie Biologie. Es besitzt ein hochempfindliches Sensor-System, das sogenannte limbische System, mit dem es die Qualität der zwischenmenschlichen Beziehungen fortlaufend evaluiert. Abhängig davon verändert sich im Gehirn die Ausschüttung von Botenstoffen, die dann ihrerseits zur Aktivierung oder Abschaltung von Genen führt. Das Gehirn verwandelt soziale Erfahrungen in Chemie.

Wenn das Gehirn stets aufs Neue analysiert, wie beständig können dann Annahmen über menschliches Verhalten sein?

Unser Gehirn arbeitet ökonomisch. Es bewertet einen Menschen, mit dem wir schön öfters Erfahrungen gemacht haben, nicht bei jeder weiteren Begegnung neu, sondern reagiert mit einer Art emotionaler Routinereaktion. Das hat Vor- und Nachteile. Wir sollten auf andere Menschen auch öfters einmal einen frischen, neuen Blick werfen.

Wir kooperieren auch in Erwartung positiver Gefühle, etwa Anerkennung und Verständnis. Das kann doch schiefgehen, wenn diese Erwartungen nicht erfüllt werden.

Wir leben auf einem übervölkerten Globus, dessen Ressourcen begrenzt sind. Daraus ergeben sich zwangsweise Konflikte, daher gehören Frustrationen zum Leben. Jeder Mensch muss lernen, Frustrationen zu ertragen und nicht verrücktzuspielen, wenn die Dinge nicht so laufen, wie man es sich gewünscht hätte. Frustrationstoleranz ist nicht angeboren.

Konkurrenz und Aggression sind in uns vielleicht von Natur aus weniger stark angelegt, aber doch vorhanden. Wann bringen uns diese Fähigkeiten im Leben weiter?

Die Aggression ist wie die Angst zunächst nichts Schlechtes, sondern ein Verhaltensprogramm, das wir brauchen, wenn wir in Gefahr geraten. Als Gefahr nimmt das Gehirn aber nicht nur körperliche Angriffe wahr. Die Schmerzsysteme springen auch an, wenn jemand ausgegrenzt oder gedemütigt wird.

Inwieweit nimmt ein Mensch Schaden, wenn er sich über längere Zeit aggressiv verhält?

Die bei chronisch aggressivem Verhalten vermehrt ausgeschütteten Stressbotenstoffe sind Nervenzell-Gifte und führen zum Absterben von Nervenzellen. Chronisch aggressive Menschen schaden sich aber nicht nur biologisch, sondern auch sozial: Wer permanent auf Radau aus ist, hat am Ende keine Freunde mehr. Das gilt für Personen genauso wie für Staaten.

Mal angenommen, in der Arbeitswelt bin ich jemand, der für seine Karriere rücksichtslos gegen andere vorgeht. Am Abend bin ich zu Hause ein fürsorglicher Familienmensch. Wie geht das?

Solche Zustandswechsel sind uns in den Neurowissenschaften nicht unbekannt. Ein banales Beispiel: Eine Erfahrung, die Ihnen im Zustand einer leichten Alkoholisierung zugestoßen ist, erinnern Sie am besten, wenn Sie wieder leicht alkoholisiert sind. Nicht nur Drogen, auch verschiedene soziale Milieus können im Gehirn Zustandswechsel erzeugen, die zu divergierenden Verhaltensmustern führen können. Das kann auch – Beispiel treusorgender Familienvater als SS-Mann – perverse oder pathologische Ausmaße annehmen.

Was bleiben die drängendsten Fragen in der Kooperationsforschung?

Eine Balance zwischen Freiheit und sozialer Gerechtigkeit zu finden, sowohl innerhalb von Staaten als auch international. Ohne Freiheit gibt es keine Innovation und keine Kreativität. Ohne Gerechtigkeit und sozialen Ausgleich aber werden wir uns selbst zerstören.

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