Garzweiler II ist eine gigantische, über 60 Kilometer lange Grube. Tag und Nacht graben sechs riesige Schaufelradbagger, mehr als 200 Meter lang und 100 Meter hoch, tonnenweise Braunkohle aus. Mit jeder Umdrehung ihrer Pranken buddeln sich die Stahlkolosse dem nordrhein-westfälischen Dorf Immerath entgegen. Bis zum Jahr 2017 müssen alle Bewohner weg sein, doch Immerath ist jetzt schon eine Geisterstadt. Die Kirche hat längst keine Glocke mehr, die Fenster der meisten Häuser sind verriegelt. An manchen kleben noch Papiere mit der Aufschrift „Dieses Haus ist bewohnt“. Die Hinweise sollen Plünderer abhalten.
Der Einzige, der noch ausharrt, ist Stephan Pütz. Vor über 15 Jahren ist er das erste Mal gegen RWE vor Gericht gezogen. „Ich habe nicht eingesehen, dass ein Energiekonzern bestimmt, wo ich leben soll“, sagt Pütz. Doch Klagen gegen Rahmenbetriebspläne sind aussichtslos, das haben die Richter in den folgenden Jahren immer wieder bestätigt. Im Land der Energiewende wird nun auch Pütz wegen der Braunkohle seine Sachen packen müssen.
Am vergangenen Wochenende wurde Immerath ein letztes Mal zum Leben erweckt. Mit gelben Protestbannern ausgestattet, bildeten rund 6.000 Umweltschützer entlang der nahen Autobahn 61 eine mehr als sieben Kilometer lange Menschenkette. Bis hierhin und nicht weiter, lautete ihre Botschaft an die rot-grüne Landesregierung. Die Kette, organisiert von den großen Verbänden wie BUND und Greenpeace, war die bisher größte Aktion gegen Braunkohle im Rheinischen Revier.
Das Energiewendeparadox
Doch auch die Gegner machen mobil: Am selben Tag demonstrierten in Berlin rund 15.000 Menschen für die Braunkohle, unter ihnen Mitarbeiter der Energiekonzerne RWE und Vattenfall sowie Vertreter der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie, IG BCE. Auch Mitglieder der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi waren dabei. Der Zorn der Kohlelobby richtet sich in diesen Tagen vor allem gegen Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) und seine geplante Klimaabgabe. Stein- und Braunkohlekraftwerke sollen bestimmte Freibeträge für CO2 bekommen – je älter das Kraftwerk, desto geringer der Freibetrag. Wird mehr emittiert als erlaubt, müssen die Betreiber zahlen.
Mit der Abgabe hofft Gabriel, das „Energiewendeparadox“ in den Griff zu bekommen. Trotz des Erfolgs von Solar- und Windenergie laufen die alten Braunkohlemeiler auf Hochtouren. Braunkohle ist derzeit ein unschlagbar günstiger Energieträger. Die Energiekonzerne holen den Rohstoff aus den Tagebauen und verheizen ihn in ihren Kraftwerken. Gaskraftwerke laufen vergleichsweise emissionsarm, doch muss das Gas teuer importiert werden. Der Hauptgrund für den Braunkohleboom jedoch ist der lächerlich niedrige CO2-Preis im Emissionshandel. Er dümpelt seit einigen Jahren bei rund fünf Euro. Würden alle Schäden eingerechnet, die die verfeuerte Braunkohle bei Menschen und Klima verursacht, müssten die Konzerne für eine Tonne CO2 mindestens das Vierfache zahlen. Dennoch verschmutzen deutsche Kohlekraftwerke ungehindert die Atmosphäre.
Die Klimaabgabe soll 22 Millionen Tonnen CO2 einsparen. So besteht noch eine Chance, das deutsche Klimaziel bis 2020 einzuhalten. Und das Land, einstiger Vorreiter im Klimaschutz, würde beim internationalen Klimagipfel am Ende des Jahres in Paris nicht mit leeren Händen dastehen.
Mit der Abgabe riskiere Gabriel „den Kollaps der großen Energieversorger und den sozialen Blackout ganzer Regionen“, wettert der IG-BCE-Vorsitzende Michael Vassiliadis. 100.000 Stellen seien gefährdet. Eine Rechnung hat die Gewerkschaft jedoch nie vorgelegt. Der Bundesverband Braunkohle sieht 40.000, der RWE-Konzern bundesweit 30.000 Arbeitsplätze auf der Kippe.
#Vattenfake: Zu schön, um wahr zu sein
„Vattenfall steigt aus der Braunkohle aus! 100 Prozent Ökostrom!“ Der Mann im schwarzen Anzug stellt sich vor als Sven Ansvar, Pressesprecher und Verantwortungsmanager des Energiekonzerns Vattenfall. Auf einer Pressekonferenz am vergangenen Freitag präsentiert er am Berliner Firmensitz die neue „Responsibility-Initiative“: Bis 2030 will der Konzern zehn Milliarden Euro in die Lausitz investieren. Bisher hat Vattenfall in der Region Kohle abgebaut, nun soll der soziale und ökologische Umbau vorangebracht werden. Dann posiert Ansvar vor sich drehenden Miniatur-Windrädern und strahlt in die Kameras.
Um 9.30 Uhr erreicht die Pressemitteilung die Redaktionen. Sie verweist auf die Seite vattenfall-responsibility.de. Hier gibt es ein Imagevideo zu sehen, in dem das neue Bekenntnis von einer Alles-wird-gut-Musik untermalt ist. Einige Medien bringen eine Eilmeldung, die Märkische Allgemeine Zeitung schreibt begeistert über die „sensationelle Nachricht für die Lausitz“. Doch bald ist klar: Alles nur ein Fake, eingefädelt von dem Berliner Aktivisten- und Künstlerkollektiv Peng!. „Da Vattenfall von selbst nicht drauf gekommen ist, Verantwortung zu übernehmen, haben wir alles vorbereitet“, erklärt ein Sprecher. Unter #Vattenfake wird die Aktion auf Twitter bekannt und löst eine Debatte über das Verhalten von Vattenfall aus. Der Konzern selbst will nun prüfen, ob und wie er rechtlich gegen die Aktivisten vorgehen kann.
Selbst diese Zahlen halten viele Experten für übertrieben. „Die Berechnungen basieren auf Stilllegungsszenarien jenseits aller wirtschaftlichen Realität“, kritisiert Felix Matthes vom Öko-Institut in Berlin. Neuere Braunkohlekraftwerke könnten von der Klimaabgabe nämlich durchaus profitieren. Steigt durch die Abgabe der Großhandelspreis für Strom an der Börse, bekommen die Betreiber der neuen Kraftwerke mehr Geld. Zudem geht der Experte davon aus, dass die Unternehmen der Braunkohleindustrie sowie deren Zulieferer auch in Zukunft Aufträge bekommen, vor allem aus dem Ausland und in anderen Bereichen als der Braunkohle. Das Umweltbundesamt sieht durch die Klimaabgabe knapp 5.000 Arbeitsplätze gefährdet. Die deutsche Kohlewirtschaft wird also keineswegs auf einen Schlag zusammenbrechen.
Trotzdem wehrt sich die Lobby mit Händen und Füßen gegen die Abgabe, besonders der RWE-Konzern. Kein Wunder: Seine Kraftwerke in den nordrhein-westfälischen Städten Neurath und Niederaußem stehen auf der Liste der zehn schlimmsten Dreckschleudern Europas. Auch andere Kraftwerke sind hoffnungslos überaltert. Es sind genau diese Anlagen, mit denen RWE nach dem Atomausstieg noch Geld macht und denen Sigmar Gabriel nun an den Kragen will. Und so malt der Konzern düstere Schreckensbilder vom Untergang des Industriestandorts Nordrhein-Westfalen.
Dabei hat RWE schon vorher Stellen im Braunkohlesektor abgebaut, und zwar ganz ohne strenge Klimaschutzvorgaben. „Wenn heute bei RWE Arbeitsplätze tatsächlich gefährdet sind, liegt das nicht am Klimaschutz, sondern daran, dass der Konzern die erneuerbare Zukunft zuerst ausgelacht und dann verschlafen hat“, erklärt Reiner Priggen, Energieexperte der nordrhein-westfälischen Grünen und langjähriger Fraktionsvorsitzender im Landtag. Priggen ist dafür bekannt, beim Thema Braunkohle kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Andere Parteifreunde sind da zurückhaltender, im größten Bundesland hängen immer noch einige Arbeitsplätze an der Kohle.
Klimaziel und Wirklichkeit
Als großen Erfolg verbuchen die Grünen einen Kompromiss, den sie im vergangenen Jahr ihrem Koalitionspartner SPD abgerungen haben. Der Tagebau Garzweiler II soll kleiner werden als zuvor geplant, der Ort Holzweiler mit seinen rund 1.400 Einwohnern darf bleiben. Im kommenden Sommer wird entschieden, wie es mit dem Rheinischen Revier nach 2030 weitergeht.
Landeswirtschaftsminister Garrelt Duin (SPD) gilt als Verfechter der Kohle. Zur Klimaabgabe sagt er: „Hier ist noch nichts in Stein gemeißelt.“ Er setzt darauf, dass Gabriel noch andere Vorschläge macht. Und auf die nordrhein-westfälische CDU. Sie ist in der Union der größte Landesverband und zeigt sich ebenfalls kämpferisch: „Die Vorschläge einer neuen Steuer und Abgabe auf Braunkohle werden keine Zustimmung finden“, sagt Armin Laschet, Fraktionschef im Landtag und CDU-Bundesvize.
Auch die Gegner der Klimaabgabe betonen, wie wichtig ihnen der Klimaschutz sei. Nordrhein-Westfalen hat als erstes und bisher einziges Bundesland ein Klimaschutzgesetz, der Ausstoß klimaschädlicher Gase soll bis zum Jahr 2050 um mindestens 80 Prozent reduziert werden. Doch in der Praxis hat sich nicht viel getan. Erneuerbare Energien machen landesweit lediglich sieben Prozent der Stromproduktion aus. Im übrigen Bundesgebiet ist ihr Anteil fast viermal so hoch. Zudem ist Nordrhein-Westfalen für ein Drittel aller nationalen Emissionen verantwortlich. Und in den schon genehmigten RWE-Tagebauen liegen Reserven, die, wenn sie verbrannt werden, drei Milliarden Tonnen CO2 verursachen können. Für das Klimaziel wäre das fatal.
„Ob mit oder ohne Klimaabgabe, die Region befindet sich bereits in einem Strukturwandel“, sagt Grünen-Energieexperte Priggen. Daran können auch die Gewerkschaften nichts ändern. Es ist an der Zeit, diese Wahrheit auszusprechen und die Stahlkolosse in der Garzweiler-II-Grube endlich in Rente zu schicken.
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