In dem kleinen Zimmer in der Medina einer marokkanischen Stadt, ist es so warm, dass Mary in Unterwäsche auf dem Matratzenlager liegt, während sie Paola das Fläschchen gibt. Draußen dämmert es, der Wind lässt die Wäscheleinen auf der Terrasse flattern, der Muezzin hat soeben das Abendgebet gesungen. Mary erzählt ihre Geschichte. Sie trägt rot gelockte Extensions und bunten Lidschatten. Mit ihren großen Augen und runden Wangen hat sie das Gesicht eines Kindes, obwohl sie 30 ist. Neben dem Bett sitzt Joyce auf einem Plastikhocker und dreht einen Joint. Die Dreads hängen lustlos über ihr Sportshirt. Sie wirkt älter als Mary, ist aber erst 29. Die zwei Frauen könnten unterschiedlicher nicht sein.
Mary und Joyce heißen eigentlich anders, aber wollen zu ihrer eigenen Sicherheit anonym bleiben. Sie sind ein Paar, seit sieben Jahren. Weil das in Kamerun illegal ist, sind sie geflohen. Auch in Marokko sind sie nicht sicher. Ihre Freiheit beschränkt sich auf sechs Quadratmeter, verlassen sie ihr Zimmer, werden sie zu Schwestern. „Marokko ist die Hölle“, sagt Mary. „Ich sterbe lieber, als nach Kamerun zu gehen“, sagt Joyce. Es gibt kein Zurück ins Heimatland, es gibt kein Hier in Marokko. Dass das so ist, hängt auch mit der EU zusammen.
Vom Schlepper verkauft
Sieben Jahre zuvor steht Mary bei einem Exorzisten in einer Stadt im Osten Kameruns. Ihre Mutter hat sie zum Priester gebracht, damit der ihr die „Dämonen“ austreibt. Der Priester schlägt sie und zwingt sie dazu, immer einen Satz aufzuschreiben, über viele Seiten: „Ich will nicht lesbisch sein.“ Zwei Wochen verbringt sie im Haus des Priesters. Zusammen mit anderen jungen Frauen. Zusammen mit Joyce. Zwei Wochen lang beschützen sie sich gegenseitig vor Missbrauch und Vergewaltigung durch den Exorzisten. Sie lassen sich nicht allein und verstecken sich, wenn der Priester abends ins Zimmer kommt. Dann hauen sie gemeinsam ab, in die Großstadt Douala. So erzählt es Mary. Sicher fühlen sie sich nie mehr wieder.
In Kamerun ist gleichgeschlechtlicher Sex ein Verbrechen, fünf Jahre Haft stehen darauf. Nach Berichten von Amnesty International reicht vor Gericht oft der Verdacht auf Homosexualität für eine Verurteilung. Mary und Joyce sind seit fünf Jahren ein Paar, als Joyce von einer Gruppe Männer vergewaltigt wird. „Die wollten mich zur Frau machen“, sagt sie. Der Aufseher des Viertels gibt nicht den Tätern die Schuld, stattdessen droht er den beiden Frauen mit der Polizei. Sie entschließen sich zur Flucht, erzählt Mary. „Wir wussten nicht, wohin, wir wussten nur, wir müssen weg.“
Die Flucht führt sie durch Nigeria, Benin, Niger. In Nigeria wird Homosexualität strafrechtlich verfolgt, in keinem der Länder gibt es rechtlichen Schutz vor LGBT-feindlicher Diskriminierung. Um durch die Sahara nach Algerien zu kommen, schließen sie sich einem Konvoi von knapp hundert Migrant*innen an. Drei Tage lang wird der Konvoi von den Schleppern zwischen den Dünen vergessen. „Ich dachte an die Bilder der toten Migranten, die zu Hause im Fernsehen gezeigt werden, und war mir sicher: Morgen zeigen sie mich“, sagt Joyce.
In Algerien werden sie direkt nach der Grenzüberquerung von dem dortigen Schlepper verkauft. „Wir waren Ware. Dein Arsch wird angeschaut, deine Brüste, deine Zähne, dann wird verhandelt“, sagt Mary. 65.000 Dinar, knapp 500 Euro, bezahlt ein Menschenhändler für die zwei Frauen, die sich als Schwestern ausgeben. Mary muss seine Frau spielen, Zuneigung vortäuschen und mit ihm schlafen, dafür wird ihre „kleine Schwester“ nicht zwangsprostituiert. Dann soll Mary weiterverkauft werden, sie allein für 100.000 Dinar. „Wie wir geweint haben! Das kann doch nicht Gottes Wille sein, dass wir hier getrennt werden, nachdem wir die Wüste überstanden haben“, sagt Mary. Vielleicht ist es in jener Nacht Gottes Wille, dass der sonst streng bewachte Eingang offensteht. „Wir sind gerannt, gerannt, gerannt, ohne Schuhe, ohne Geld, einfach nur gerannt“, erzählt Mary. Die feuchte, warme Luft des Zimmers wird von dem Haschisch süßlich eingeräuchert. Paola schläft, Mary hockt vor dem Gasherd und rührt in einer kamerunischen Fischsuppe, Joyce raucht. „Wenn wir hier weg sind, höre ich auf zu rauchen. Aber hier brauche ich das, um nicht zu viel nachzudenken“, sagt sie.
Nach fünf Monaten in Algerien erreichen Mary und Joyce Oujda, eine marokkanische Stadt nahe der Grenze zu Algerien. „Uns wurde erzählt, in Marokko sei alles besser“, sagt Mary. Sie fahren nach Rabat und beantragen im dortigen Büro des UNHCR Asyl.
Marokko hat kein eigenes Asylsystem, ein entsprechender Gesetzesentwurf von 2013 wurde bisher nicht umgesetzt. Deshalb ist für die Verfahren der UNHCR verantwortlich. „Wir warten auf das Gesetz. Bis dahin muss jeder Flüchtling erst von uns, dann zusätzlich von einer marokkanischen Kommission anerkannt werden“, sagt ein Mitarbeiter des UNHCR-Büros in Rabat, der anonym bleiben möchte. Die Unterstützung, die der UNHCR leisten kann, ist begrenzt. Selbst anerkannte Flüchtlinge erhalten nur bei besonderer Bedürftigkeit finanzielle Hilfe, für Asylsuchende gibt es weder Geld noch Unterkunft noch Zugang zu medizinischer Versorgung. Laut der Behörde vor Ort fehlen allein im Jahr 2018 6,9 Millionen Euro. Auch mit Asyl hätten die beiden Frauen keine Perspektive in Marokko: LGBTI-Flüchtlinge stehen zwar unter dem Schutz des UNHCR, aber werden von marokkanischer Seite nicht anerkannt. Ohne Anerkennung kein Aufenthaltstitel, keine Arbeitserlaubnis und keine Möglichkeit, sich ein Leben aufzubauen. Stattdessen Angst vor Verfolgung: Homosexualität ist in Marokko gesetzlich verboten und kann mit bis zu drei Jahren Haft bestraft werden. Laut Nidal Azhary von der marokkanischen Organisation für Frauen- und LGBT-Rechte Union Féministe Libre kommt es jedes Jahr zu Verurteilungen von Schwulen und Lesben, zudem sind Homosexuelle von Alltagsdiskriminierung und Bedrohung betroffen.
Es ist Anfang 2018, die Flucht dauert schon fast ein Jahr. Joyce und Mary sind trotz ihres Asylgesuchs auf sich allein gestellt. Freundinnen vermitteln ihnen in Casablanca ein Zimmer bei einem Bekannten. Kurz Luft holen und Ausruhen, aber Joyce geht es schlecht. „Sie war so blass, hat kaum gegessen, ihr war übel“, erzählt Mary. Sie kauft ihrer Freundin einen Schwangerschaftstest. Als sie das Ergebnis sieht, ist sie geschockt: Da ist ein Baby. Es hat den Horror der letzten zwei Monate überlebt. „Aber dann dachte ich mir: Dieses Kind will bei uns bleiben, das ist ein Segen Gottes.“
Die EU zahlt fürs Abschotten
Paola ist aufgewacht und schreit. „Nimm du sie mal!“, sagt Mary zu Joyce und legt ihr das Kind in den Schoß. Paola schreit weiter. „Sei kein Baby!“, schimpft Joyce und schaut streng in die Babyaugen. Meistens ist es Mary, die sich um die vier Monate alte Paola kümmert, sie wäscht und füttert und herumträgt. Mary bleibt meistens zu Hause, während Joyce unterwegs ist. Die beiden Frauen betreiben ein Essensgeschäft. Joyce kauft Zutaten im Großhandel, Mary kocht und Joyce geht dann mit einer blauen Camping-Kühltruhe durch die Straßen und verkauft die kamerunischen Speisen. Joyce sagt: „Ich bin der Mann. Mary meine Frau.“
Kurz nachdem sie um Joyces Schwangerschaft wissen, verlassen die beiden Casablanca. Der Bekannte hat sie belästigt und sexuelle Gefälligkeiten als „Miete“ verlangt. Sie gehen in Richtung Norden und gelangen in ein verstecktes Camp in den Wäldern rund um Tanger. Zwischen Pinien und Eukalyptusbäumen leben dort Hunderte subsaharische Migrant*innen, bereit, mit dem nächsten Schlauchboot nach Spanien zu fahren. Bereit für „Boza“, so wird die Ankunft in Europa genannt. Die Fahrt mit einem motorisierten Boot für rund 40 Passagiere kostet 2.000 Euro, 300 Euro die Fahrt mit einem Familienschlauchboot zum Paddeln. An ein besseres Leben in Marokko glauben Joyce und Mary nicht mehr. Sie glauben an Boza. Also sparen und betteln sie sich das Geld zusammen. Dreimal bezahlen sie 300 Euro, dreimal wird ihr Boot unweit der Küste von der marokkanischen Marine abgefangen.
Die Marine patrouilliert und die Küste ist gesprenkelt mit bunten Plastikplanen, unter denen Soldaten hocken und nach Schlauchbooten Ausschau halten. Marokko kämpft gegen Migration übers Mittelmeer und bekommt dafür Geld von der EU. Seit 2014 sind bereits 232 Millionen Euro im Rahmen einer sogenannten Migrations-Kooperation nach Marokko geflossen. Nur vier Prozent davon sind für die Integration von Migrant*innen bestimmt. Der Rest dient dem „Migration- and border management“, also dem Grenzschutz. Die EU finanziert das Equipment wie Fahrzeuge, Boote und Funksysteme. Nach Angaben des Pressesprechers der EU-Kommission, Alceo Smerilli, soll das Geld in Zukunft auch der Ausbildung marokkanischer Grenzschützer*innen dienen.
Als Mary und Joyce das dritte Mal von der Marine verhaftet werden, werden sie nicht wie die Male davor nach ein paar Stunden entlassen. Diesmal werden sie mit einem Bus 872 Kilometer in den Süden Marokkos, nach Tiznit, verschleppt. Joyce ist zu dem Zeitpunkt hochschwanger. Deportationen in den Süden sind in Marokko seit Jahren gängige Methode, um Migrant*innen vom Mittelmeer fernzuhalten. „Es gibt keine Rechtsgrundlage, keinen richterlichen Beschluss und keine polizeilichen Akten. Und es ist vollkommen sinnlos, weil die Migranten, sobald sie können, wieder in den Norden fahren“, sagt Omar Naji, Aktivist der Menschenrechtsorganisation AMDH. Eigentlich wird registrierten Asylsuchenden von Marokko Schutz vor Abschiebung und Verschleppung gewährt. Aber die Polizei wollte nicht einmal die UNHCR-Papiere sehen, sagt Joyce. Diese Praktiken müssten der EU bekannt sein. Es gibt Interviews mit Betroffenen, Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen und Amnesty International verurteilen öffentlich die Deportationen.
Trotzdem wird im Dezember 2018 ein neues Geld-Paket beschlossen: 140 Millionen Euro schickt die EU nach Marokko, um Migrant*innen von Europa fernzuhalten. 70 Millionen gehen direkt an die marokkanische Regierung. Laut Pressesprecher Alceo Smerilli soll mit dem Geld keine menschenrechtswidrige Politik unterstützt werden. Er sagt nicht, wie die EU das überprüfen will.
In Tiznit müssen Joyce und Mary betteln, um ein Rückfahrticket in den Norden zu kaufen. Sie gehen zurück in den Wald. Ihr Asylverfahren läuft, doch als nach einem halben Jahr im Oktober 2018 die Anhörung ansteht, haben die beiden Frauen kein Geld, um nach Rabat zum UNHCR-Büro zu fahren, erzählt Joyce. Der Termin verfällt, das Verfahren wird neu eingeleitet. Nach Paolas Geburt im November 2018 suchen sich Joyce und Mary ein Zimmer in der Medina einer marokkanischen Kleinstadt und verdienen genug Geld mit kamerunischer Küche für Miete, Milch und den eigenen Hunger.
Seit der Geburt von Paola haben die Frauen keine weitere Schlauchbootfahrt gewagt. Aber sie wollen auf keinen Fall in Marokko bleiben. Täglich erleben sie Rassismus. „Wir wurden von Kindern auf der Straße beleidigt, bespuckt und mit Steinen beschmissen.“, erzählt Mary und deutet auf eine Narbe am Schienbein, wo sie von einem dieser Steine getroffen wurde. Am schlimmsten war die Geburt von Paola. „Ich habe geschrien vor Schmerzen, aber die Hebammen haben sich gestritten, weil keine mich anfassen wollte“, sagt Joyce. Erst nach einer Nacht auf dem Krankenhaus-Flur und ohne Behandlung habe sich eine Ärztin gekümmert. „Paola soll nicht in Marokko aufwachsen müssen.“, sagt Joyce.
Raus aus Marokko – das verspricht „Boza“, und das verspricht auch ein anderes verheißungsvolles Wort: Resettlement. Der UNHCR schickt mit dem Programm jedes Jahr knapp 100 Geflüchtete von Marokko aus nach Kanada oder in die USA. Je nachdem wie viele Plätze verfügbar sind, wird ein bestimmter Anteil für LGBTI-Flüchtlinge reserviert, 2018 waren es laut UNHCR rund 20 von insgesamt 110 Plätzen. Bis zur tatsächlichen Überführung kann es einige Jahre dauern, sagt der Mitarbeiter des UNHCR. „Wir vergeben die Plätze nach dem first-come-first-serve-Prinzip.“ Ein System, das über Leben und Tod entscheidet und dabei wie am DB-Info-Schalter verfährt: Nummer ziehen und warten. Dazu kommt, dass es einfach zu wenige Plätze gibt. Die Zahlen des UNHCR zeigen, dass seit dem Start des Resettlement-Programmes 2007 von 903 bewilligten Resettlement-Fällen nur 61 Prozent wirklich durchgeführt wurden. 352 Menschen warten bis heute.
Am 22. März 2019 um halb neun Uhr morgens klopft es an der Tür. Joyce öffnet und ein Polizist steht im Zimmer, sie sollen mitkommen. „Er sagte, wir würden auf die Wache fahren, um unseren Aufenthaltstitel zu bekommen“, sagt Joyce. Sie können weder Windeln und Babymilch noch warme Kleidung mitnehmen. Im Kommissariat angekommen, geht es in eine kahle Sammelzelle, Joyce schickt per WhatsApp ein Video: Betonboden mit Matratzen, darauf sieben Frauen und zwei Kinder, keine Toiletten. Nach drei Stunden werden sie zum Bus gebracht, wieder ignoriert die Polizei ihre UNHCR-Papiere, so Joyce. In der Nähe von Marrakesch endet die Fahrt und die Deportierten müssen schauen, wo sie bleiben. Als Joyce davon erzählt, lacht sie bitter. „Ich verstehe dieses Land nicht: Sie versuchen uns mit allen Mitteln daran zu hindern, nach Europa zu gelangen. Aber hier machen sie uns das Leben unmöglich.“
Es ist spät geworden. Mary flicht Paola kurze Zöpfe, die wie kleine Antennen abstehen. Joyce tippt auf ihrem Handy rum, auf Facebook hat jemand ein neues Boza-Video gepostet: Eine Frau liegt auf dem Deck eines spanischen Rettungsschiffes und weint vor Freude, die übrigen Passagiere schreien und jubeln und tanzen. „Wenn Paola groß genug ist, versuchen wir es wieder“, sagt Joyce. „So Gott will sind wir in einem Jahr auch drüben.“
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