Ein Kind braucht erwachsene Bezugspersonen mit verlässlichem Kontakt
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Wenn Delia Keller in ihrem Büro in Berlin-Prenzlauer Berg steht, kann sie zu jedem Buch auf Regal, Sekretär und Sofatisch eine Geschichte erzählen. „Schau mal“, sagt sie dann, „das ließ sich für ein kleineres Budget toll gestalten!“ Sie zeigt auf ein anderes Buch: „Bei diesem hier habe ich ewig an der Reihenfolge der Bilder gearbeitet.“ Behutsam blättert sie durch eins der Werke und die Freude daran ist ihr deutlich anzusehen.
Keller liebt ihre Arbeit. Als Selbstständige im Berliner Kunstbetrieb kuratiert sie Ausstellungen, stellt Kunstbücher zusammen, lehrt an der Hochschule und präsentiert auch ihre eigenen Fotografien regelmäßig vor Publikum. Als alleinerziehende Mutter eines zehn- und eines zw
nes zwölfjährigen Sohnes arbeitet sie außerdem Vollzeit in der unbezahlten Sorgearbeit. Im Frühjahr 2021 wollte sie den Kindsvater gerichtlich zu mehr Betreuung verpflichten – und scheiterte. Ihre Geschichte zeigt, wie die Rechtsprechung hauptbetreuende Elternteile, also mehrheitlich Mütter, diskriminiert. Seit Beginn der Pandemie halte sich der Vater nicht an die ausgemachten Betreuungszeiten, erzählt Keller. In einer neuen Partnerschaft mit neuem Kind habe er immer öfter die Wochenenden mit den beiden Söhnen verschoben und abgesagt. Vergangenen Januar entschließt sich Keller deshalb, vor Gericht zu gehen. „Es ging nicht mehr weiter, er wollte irgendwann nur noch ein Wochenende im Monat übernehmen.“ Sie fordert von ihrem Ex-Partner, sich an zwei fixen, verlängerten Wochenenden im Monat um die Söhne zu kümmern.Rechtsprechung diskriminiertIm März findet dann die Verhandlung vor dem Familiengericht Berlin-Pankow statt. Ergebnis: Es bleibt bei einem Wochenende im Monat. Schockiert ist Keller vor allem von der Stellungnahme des Jugendamtes, auf der das Urteil maßgeblich beruht. Dort heißt es: „Die Kindesmutter stellt in ihrem Antrag einen Umgangsvorschlag dar, von dem sie genau weiß, dass der Kindesvater diesen aus beruflichen Gründen nicht umsetzen kann.“ Keller kann die Stelle in dem Dokument auswendig aufsagen: „Von dem sie genau weiß“, wiederholt sie mehrmals, dermaßen verärgert ist sie über diese Formulierung. „Das kann doch nicht sein, ich bin berufstätig und habe mindestens die gleiche Qualifikation!“ Aber darum sei es in dem Prozess überhaupt nicht gegangen. Die Verantwortlichen im Jugendamt Pankow wollten sich gegenüber dem Freitag zu diesem Fall nicht äußern.Karola Rosenberg arbeitet als Anwältin im Familienrecht und sieht in Kellers Fall ein typisches Beispiel für diskriminierende Rechtsprechung. Immerhin gebe es nicht nur ein Umgangsrecht, sondern auch eine Umgangspflicht. Jedoch falle die Umsetzung sehr unterschiedlich aus: „Wenn ein betreuendes Elternteil vom anderen Elternteil Umgang einfordert, dann muss der Umgang dem Kindeswohl dienen. Wenn ein Elternteil vor Gericht für sich selbst Umgang einfordert, dann wird der Umgang immer gewährt, außer er schadet dem Kind.“ In Hinblick auf die statistische Verteilung werde es also besonders alleinerziehenden Müttern schwer gemacht, mehr Verantwortung auf den Kindsvater zu übertragen.Ein beliebtes Argument für diese Rechtsprechung ist die Angst, dass ein Elternteil, welches kein Interesse an regelmäßigen Treffen mit dem eigenen Kind hat, für dieses eher eine Gefahr als eine Bereicherung darstellt. Dann bleibt die Mutter fast immer alleine auf der Kinderbetreuung sitzen. Rosenberg kritisiert das: „Meistens besteht ja ein Interesse am Kind, aber nur, solange es bequem ist. Und wenn da die Mütter kommen und sich gerade jetzt in Coronazeiten entlasten wollen, dient das eigentlich unmittelbar dem Kind.“ Doch die Entlastung der hauptbetreuenden Person reicht vor Gericht nicht als Argument aus. Das zeigt, wie sehr Care-Arbeit noch immer als „natürlich weibliches“ Aufgabenfeld gilt. So werden nicht nur Rollenbilder, sondern auch materielle Unterschiede reproduziert: Wer kann wie viel lohnarbeiten und später in die Rentenkasse einzahlen? Wer ist im Alter von Armut betroffen? Ein Blick auf die Zahlen zeigt, wie groß die Lücke zwischen Männern und Frauen hier klafft: Insgesamt sind 22 Prozent der Alleinerziehenden von Armut bedroht. Doch der Großteil davon, nämlich 88 Prozent, sind Mütter.Was aber, wenn ein Elternteil nicht weniger, sondern mehr Umgang will? Karola Rosenberg schließt nicht aus, dass die sexistische Grundannahme, eine Mutter sei natürlicherweise die primär Sorgeberechtigte, zulasten von Vätern gehen kann. Aber die Hürde für einen sogenannten Umgangsausschluss sei relativ hoch: Selbst wenn der Mann gewalttätig gegen die Ex-Partnerin gewesen sei, würde abgewogen zwischen der Gefahr einer möglichen Retraumatisierung des Kindes und dem Risiko der Entfremdung.Für Tanja Zimmermann* bedeutet diese Rechtspraxis mentale Dauerbelastung. Denn seit drei Jahren lebt sie in einem gerichtlich durchgesetzten Wechselmodell mit ihrem Ex-Mann. Das heißt, sie muss mit dem Vater der beiden gemeinsamen Kinder eine genau hälftige Betreuung organisieren. Dadurch ist sie regelmäßig gerade jenem Menschen ausgesetzt, der sie vor und nach der Trennung missbrauchte. In ihrer Beziehung kam es schon früh zu psychischer Gewalt. Der Mann isolierte Zimmermann von Familie und Freundinnen, setzte einen Umzug aufs Land durch, hielt sie von ihrer Arbeit ab und gab ihr das Gefühl, „der letzte Dreck zu sein“, wie sie es formuliert. Nach vier Jahren schafft sie es endlich raus, trennt sich, zieht in die nächstgrößere Stadt und beginnt wieder als Chemikerin zu arbeiten. Der Plan sei gewesen, die Kinder mitzunehmen. „Aber er hat bald darauf betont, dass das auch seine Kinder seien, und eine hälftige Betreuung eingefordert, obwohl ich mich bis dahin nahezu alleine gekümmert hatte.“ Die psychische Gewalt hört nach der Trennung nicht auf. Als Zimmermann eines Tages eine Kamera in ihrer neuen Wohnung findet, die auf ihr Badezimmer gerichtet ist, hat sie einen Beweis, um vor Gericht eine Gewaltschutz-Anordnung zu erwirken. Seitdem darf sich der Ex-Mann ihr nicht mehr nähern – außer wenn es um die gemeinsame Betreuung der Kinder geht.Trend zum WechselmodellGenau die wird parallel verhandelt. Zwei Wochen nach der Gewaltschutz-Anordnung beschließt ein Familiengericht das Wechselmodell. „Ich war komplett schockiert, dass es immer noch heißt, Wechselmodell ist eine super Idee, wenn ein Mann solche Dinge tut!“, sagt Zimmermann. Mit dem Urteil ist der Stress nicht vorbei, bis heute setzt der Ex-Mann sie durch fast tägliche Beschwerden unter Druck. „Ich habe inzwischen ein eigenes E-Mail-Postfach nur für ihn, das ist wie ein zweiter Vollzeitjob.“Seit 2017 lässt sich das Wechselmodell gegen den Willen eines Elternteiles anordnen. „Voraussetzungen sind grundsätzlich räumliche Nähe, keine Hochstrittigkeit und eine gewisse Konsensfähigkeit“, so Anwältin Rosenberg. Stefanie Ponikau, stellvertretende Vorsitzende von MIA, der Mütterinitiative für Alleinerziehende, bemerkt allerdings die Tendenz, häusliche Gewalt bei Umgangsregelungen nicht zu berücksichtigen. „Die Gerichte versuchen auf einen Elternkonsens hinzuwirken. In einem Täter-Opfer-Gefälle ist aber kein Konsens auf Augenhöhe möglich.“ Sie beobachtet einen eindeutigen Trend hin zum Wechselmodell, basierend auf einer frauenfeindlichen Ideologie. Antifeministische Akteure würden beispielsweise an wissenschaftlichen Arbeiten zu hochstrittigen Eltern derart mitwirken, dass Partnerschafts- und Nachtrennungsgewalt gegen Frauen darin keine Rolle mehr spielten. Hochstrittigkeit werde so als stets symmetrischer Konflikt dargestellt und patriarchale Machtdynamiken unsichtbar gemacht. Mit anderen Worten: Die Situation von Tanja Zimmermann ist kein Einzelfall. Die Initiative MIA unterstützt zahlreiche Mütter wie sie, die einem gewalttätigen Kindsvater Umgang mit den gemeinsamen Kindern ermöglichen müssen. Für Ponikau kann das nicht im Sinne des Kindeswohls sein: „Es ist unstrittig belegt, dass Kinder, die Gewalt an einem Elternteil miterleben, zu 99 Prozent eine posttraumatische Belastungsstörung entwickeln. Bei Kindern, die selbst Ziel der Gewalt werden, sind es 80 bis 90 Prozent.“Auch Zimmermann macht sich Sorgen um das Wohl ihrer Kinder. „Das Wechselmodell schadet ihnen, sie sind so zerrissen. Der Kleine weint sehr viel, und der Große kriegt richtig Angst, wenn ich kurz aus seinem Blickfeld verschwinde.“ Vergangenen April wurde ihr Ex-Mann wegen Nachstellung strafrechtlich verurteilt. Dadurch könnte auch eine neue Umgangsverhandlung anders ausfallen. Doch der Gedanke, die psychische Belastung und Konfrontation bei einer Verhandlung noch einmal durchstehen zu müssen, ist für Zimmermann nur schwer erträglich.Placeholder infobox-1