1991: Stunde des Mars

Zeitgeschichte Slowenien und Kroatien proklamieren ihre Unabhängigkeit von Jugoslawien. Sie als Staaten anzuerkennen, ist in Europa zunächst strittig, bis sich Deutschland durchsetzt
Ausgabe 25/2016

Schuld war der Nationalismus, ein seit dem Ersten Weltkrieg einschlägig vorbestrafter Mehrfachtäter. Unterstützt wurde er vom frisch vereinigten Deutschland, seinem alten Komplizen: Das ist auch heute, 25 Jahre danach, eine verbreitete Lesart des Kriegsausbruchs in Jugoslawien. Zerstört haben den Vielvölkerstaat danach die neuen, antikommunistischen Eliten der Teilrepubliken Kroatien und Slowenien. Zeitgeschichtliche Forschung hat das Bild nicht wesentlich erschüttern können. Die Kontroverse um den Zerfall Jugoslawiens wird in länger werdenden Intervallen rekapituliert. Rasch sammeln sich dann alle unter ihrem bekannten Fähnlein. Aber erst ein zweiter Blick auf die Ereignisse könnte helfen, nützliche Lehren daraus zu ziehen.

Nur dem äußeren Anschein nach ging es noch um Erhalt oder Zerfall Jugoslawiens. Am 25. Juni 1991 erklärten sich Slowenien und Kroatien für unabhängig. Zwei Tage später besetzten Einheiten der Jugoslawischen Volksarmee die Grenzübergänge Sloweniens mit Österreich und Italien. Tags darauf zeichneten sich auf dem Gipfel der Europäischen Gemeinschaft (EG) in Luxemburg auch international die Fronten ab. Briten und Franzosen forderten den Erhalt Jugoslawiens und ließen vorsichtiges Verständnis für den Einsatz militärischer Mittel erkennen. Bei „verbreiteten Unruhen“ könne auch die Volksarmee „zur Wiederherstellung der Ordnung eine Rolle spielen“, so der britische Spitzendiplomat Mark Lennox-Boyd. Nur die Deutschen waren skeptisch. Der Einsatz der Armee sei „völlig inakzeptabel“, sagte Außenminister Hans-Dietrich Genscher.

Die damalige Troika aus den Außenministern der aktuellen, der vorhergehenden und nachfolgenden EG-Präsidentschaft reiste nach Belgrad, um die europäische Mehrheitsmeinung durchzusetzen. Das Problem werde „binnen 24 Stunden gelöst“, prahlte Italiens Gianni De Michelis. Tatsächlich kam der kriegerische Zerfall Jugoslawiens erst acht Jahre später mit der Besetzung des Kosovo durch die NATO zu einem Ende. Die europäische Mission musste sich noch viel Spott gefallen lassen, besonders nachdem der Luxemburger Jacques Poos die Jugoslawienkrise großspurig als „die Stunde Europas“ bezeichnet hatte.

Startsignal für den Krieg

Sollen die Europäer Jugoslawien erhalten oder es zerfallen lassen? Das war die Grundfrage, und sie war ungeklärt. Die westeuropäische Maxime – selbst um den Preis einer Militäraktion – war der Erhalt des Staates. In der deutschen Öffentlichkeit dagegen stand das Selbstbestimmungsrecht der Völker im Vordergrund – wobei mit „Völkern“ ethnische Gruppen gemeint waren, nicht die Einwohnerschaften selbstständiger Staaten. Alles, was in den nächsten Wochen geschah, traf in West- und Mitteleuropa auf gegensätzliche, vorgeprägte Reflexe. Wäre es um Mexiko oder die Elfenbeinküste gegangen, wären die Fronten nicht anders verlaufen. Freilich ging es um Jugoslawien, und dort glich die Sicht auf Staat und Nation viel mehr der deutschen als der französischen. Entsprechend wurde die Situation in Bonn besser verstanden als in Paris und in London. Genschers Referatsleiter für Südosteuropa, Michael Libal, war als Kind von deutschen Korrespondenten in Belgrad aufgewachsen und alles andere als ein Serbenhasser. Libal verstand die Geschichte hinter der Geschichte: Während vordergründig um den Erhalt des Gesamtstaates gestritten wurde, ging es im Hintergrund nur noch um die Verteilung der Konkursmasse – um das Territorium.

Zehn Tage dauerte der Krieg in Slowenien. Verstörte Rekruten der Jugoslawischen Volksarmee versuchten auf Befehl ihrer ratlosen Offiziere vergeblich, slowenische Barrikaden wegzuräumen, und schossen mit schweren Waffen um sich. 66 Menschen kamen ums Leben. Am Ende stand das Abkommen von Brioni, wiederum vermittelt von der ominösen Troika: Slowenien und Kroatien setzten ihre Unabhängigkeit für drei Monate aus, im Gegenzug verpflichtete sich Belgrad, seine Truppen aus Slowenien abzuziehen. Nur vordergründig bedeutete der Frieden einen Zeitgewinn für den Erhalt Jugoslawiens. Was als Rettung des Bundesstaats gemeint war, wurde zum Startsignal für den Krieg.

Das kleine, ethnisch homogene Slowenien war am Verteilungskampf um das Territorium, wie ihn dann Serben und Kroaten erst in Kroatien und später in Bosnien führten, gar nicht beteiligt. Schon im Februar, mehr als vier Monate vor Brioni, hatte Serbiens Präsident Slobodan Milošević seinen slowenischen Amtskollegen Milan Kučan am Ärmel gezogen und ihm einen Deal angeboten: Ich lasse euch gehen, aber ihr müsst uns im Rest des Landes in Ruhe Krieg führen lassen.

Kučan ging auf den Deal nicht ein. Aber es kam trotzdem so, wie Milošević es vorgeschlagen hatte. Das dreimonatige Moratorium war nichts als eine völkerrechtliche Kulissenschieberei. Slowenien fühlte sich von Stund an richtig unabhängig und dachte gar nicht daran, sich in die folgenden Kriege hereinziehen zu lassen. Die jugoslawischen Truppen waren nun, nach ihrem Rückzug aus Slowenien, frei, in Kroatien zu kämpfen. Die Lage am Boden ließ an den Kriegszielen keinen Zweifel: Die Armee unternahm nicht den geringsten Versuch, die „separatistischen Kräfte“ in Zagreb in den Bundesstaat zurückzuholen. Für die Grenzübergänge Kroatiens mit Ungarn interessierte sie sich ebenfalls nicht. Sie sollte vielmehr „die serbische Minderheit schützen“, sprich: die Gegenden, in denen Serben lebten, von Kroatien abtrennen und einem künftigen serbischen Nationalstaat einverleiben. Mit dem Kommunismus hatte all das nur insofern zu tun, als dessen Ende die letzte, lose Klammer zerstörte. Jugoslawien bestand nach seiner – von Tito erlassenen, kommunistischen – Verfassung aus „seinen Republiken und seinen Völkern“. Je nachdem, was größer war, die Republik oder das Siedlungsgebiet des jeweiligen Volkes, gab sich die jeweilige Führung staatstreu und multiethnisch oder aber nationalistisch im völkischen Sinne. Ging es um Bosnien, war Milosevic Srbin, „Serbe“ im ethnischen Sinne. Ging es ums Kosovo, war er Srbijanac, „Serbier“ im staatlichen Sinne. Antikommunistisch jedenfalls war niemand. Der Slowene Kucan war Parteichef seiner Republik, und selbst die scheinbar dissidente kroatische Nationalpartei unter dem tief titoistisch sozialisierten Franjo Tudjman bestand in ihrer großen Mehrheit aus KP-Mitgliedern, die jetzt ohne große Umstände die Fahne wechselten und bei festlichen Anlässen fortan das Vaterunser beteten, statt die Internationale zu singen.

„Mit Anerkennung droht man nicht“

Europa stritt unterdessen über die völkerrechtliche Anerkennung der beiden Republiken. Deutschland war dafür, Großbritannien und Frankreich waren dagegen. „Mit Anerkennung droht man nicht“, warnte Willy Brandt seinen früheren Kabinettskollegen Genscher, der mit dem Pfand der Anerkennung irgendwie Einfluss auf Belgrad ausüben wollte. Brandt fürchtete, damit würden beide Seiten nur ermuntert, rasch Fakten zu schaffen. Aber sie bedurften Genschers Ermunterung gar nicht. Beide Kriegsparteien – Kroatien auf der einen, Serbien und das von ihm dominierte, nur formal noch existente Rest-Jugoslawien auf der anderen Seite – legten zwar Wert darauf, vom sich einigenden Europa nicht auf Dauer ausgeschlossen zu bleiben. Aber eilig hatten sie es nicht mit der Annäherung. Sie dachten nicht daran, sich von ignoranten Ausländern reinreden zu lassen. Es ging um die Nation. Europa war auf hold gestellt.

Nach halbjährigem Tauziehen beschlossen die Europäer schließlich am 15. Januar 1992, den Weg für die von Deutschland betriebene Anerkennung frei zu machen. Prompt hielt in Kroatien erstmals ein Waffenstillstand. Für die Befürworter der Anerkennung war das ein Zeichen, dass sie richtig gelegen hatten. Was für ein Missverständnis das war, zeigte sich ein Vierteljahr später, als in Bosnien die Anerkennung gerade mit dem Kriegsbeginn zusammenfiel. Die Europäer hatten Jugoslawien nicht, umgekehrt die Jugoslawen Europa aber sehr gut verstanden. Auch nach 25 Jahren hat sich daran nichts geändert.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Die Vielfalt feiern – den Freitag schenken. Bewegte Zeiten fordern weise Geschenke. Mit dem Freitag schenken Sie Ihren Liebsten kluge Stimmen, neue Perspektiven und offene Debatten. Und sparen dabei 30%.

Print

Für 6 oder 12 Monate
inkl. hochwertiger Weihnachtsprämie

Jetzt sichern

Digital

Mit Gutscheinen für
1, 6 oder 12 Monate

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden