Zeitgeschichte Als die Republika Srpska ausgerufen wird, da beschleunigt das die Unabhängigkeit Bosnien-Herzegowinas. Der jugoslawische Staat ist seinem Ende wieder einen Schritt näher
Und immer wieder geht es auch um die großen Symbole
Foto: Romano Cagnoni/Getty Images
Zu den Gründen für den Ausbruch des bosnischen Krieges (1992 – 1995), über seine Dynamik, erst recht die Schuldfrage sind sich die einstigen Kriegsparteien und ihre politischen Erben so uneins wie vor 25 Jahren. Gestritten wird über die Opferzahlen, sogar über den Tag des Kriegsbeginns. Eine interesselose Forschung gibt es so gut wie nicht, und wenn doch, dann nur im Ausland. Der Grundkonflikt von damals ist ungelöst. Ernsthafte Versuche zu seiner Überwindung bleiben schon lange aus. Da muss es niemanden wundern, dass der alljährlichen Zerreißprobe für den Staat Bosnien-Herzegowina wieder einmal um ein Symbol geht. Diesmal ist es der „Tag der Republik“, der 9. Januar, an dem vor einem Vierteljahrhundert die serbische Teilr
ilrepublik Srpska ausgerufen wurde.Vor einem Jahr hat das Verfassungsgericht des Gesamtstaates Bosnien-Herzegowina den sich darauf berufenden Feiertag als diskriminierend für Nicht-Serben aufgehoben. Der 9. Januar, so das Gericht, symbolisiere kein „kollektives, allgemein geteiltes Erinnern, das zur Stärkung der kollektiven Identität beitragen könnte“. Überdies hätten das Feiertagsgesetz für die serbische Teilrepublik nur die Serben beschlossen, während es die anderen Volksgruppen abgelehnt hätten.Milorad Dodik, der starke Mann der bosnischen Serben, ließ sich die willkommene Gelegenheit zur Mobilisierung seiner Volksgenossen nicht entgehen und hielt über den Gerichtsentscheid im September ein – verfassungswidriges – Referendum ab. Es bekam die erhofften 99,81 Prozent Zustimmung. Folge: Der Gedenktag bleibt. Das Urteil und die Abstimmung darüber legten nicht nur den Finger auf die Wunde der geteilten Nation; sie rieben noch tüchtig Salz hinein. Aber wer ist historisch im Recht beim Streit um den 9. Januar 1992? Auf die Frage gibt es eine „jugoslawische“ und eine rein bosnische Antwort. Beide fallen diametral auseinander. Sie zusammenzuführen, ist schon logisch unmöglich.Unstrittig ist immerhin die Vorgeschichte. Bei den ersten freien Wahlen im November 1990 hatten die Bosnier aller drei Nationen zu drei Vierteln ihrer jeweiligen nationalen Partei die Stimme gegeben: die damals noch so genannten Muslimanen der bosniakischen, die Serben der serbischen, die Kroaten der kroatischen. Nach der Wahl bildeten die drei Nationalparteien eine Koalition, brachten ihre Leute in den Staatsapparat und hielten einander in Schach.Die Regierung wurde ein Desaster. „Wenn wir jemanden verhaften“, beschrieb ein halbes Jahr später der Innenminister das System der Machtteilung, „dann ruft mich der Izetbegović, der Karadžić oder Kljujić an“, einer der nationalen Parteichefs also, „und sagt: Den nicht! Das ist ein guter Serbe, ein guter Muslim, ein guter Kroate!“„Autobahn in die Hölle“Umstritten war zwischen den drei Nationalparteien, ob auch Bosnien, die ethnisch vielfältigste unter den sechs jugoslawischen Teilrepubliken, beim Auseinanderfallen des Vielvölkerstaats mittun und sich selbstständig machen sollte. Die Serben, immerhin ein Drittel der bosnischen Bevölkerung, wollten auf keinen Fall Minderheit in einem unabhängigen Bosnien werden und drohten für den Fall mit Abtrennung. Als sich wenig später das Parlament mit der Mehrheit von Bosniaken und Kroaten für Bosniens „Recht auf Selbstbestimmung einschließlich des Rechts auf Sezession“ aussprach, nannte der serbische Parteichef Radovan Karadžić den Weg in die Unabhängigkeit eine „Autobahn in die Hölle“ und drohte, dass die muslimische Nation darin „verschwinden“ könnte.Eine Volksabstimmung nur unter Serben votierte für den Verbleib in Jugoslawien. Die Eskalation nahm ihren Lauf. Einen Tag nachdem die nichtserbische Mehrheit kurz vor Weihnachten bei der damaligen Europäischen Gemeinschaft (EG) offiziell um Bosniens Anerkennung ersucht hatte, kündigten die Serben die „baldige Schaffung einer Republik der Serben“ an. Am 9. Januar 1992 wurde sie proklamiert. Damit war die „Auffahrt in die Hölle“ genommen. Wiederum mit bosniakisch-kroatischer Mehrheit beschloss das Parlament ein Referendum über die Unabhängigkeit. Die Serben, laut Verfassung ein „konstitutives Volk“ Bosnien-Herzegowinas, boykottierten und erklärten ihrerseits ihre Teilrepublik für unabhängig. Der Krieg begann. Als nach dreieinhalb Jahren und 100.000 Toten Frieden geschlossen wurde, blieb die Serbenrepublik, inzwischen in Srpska (Serbischland) umbenannt, rechtlich erhalten. Zwar durfte sie kein selbstständiger Staat mehr sein. Zugebilligt wurde ihr Ende 1995 im Abkommen von Dayton aber genau der Status, unter dem sie am 9. Januar 1992 gegründet worden war – der einer Teilrepublik.Warum also, fragen sich heute die Serben, sollte ihre Entität den Tag ihrer Gründung nicht feierlich begehen dürfen? Die Antwort ist: weil es auch eine zweite Geschichte gibt – die jugoslawische. Als sich im Juni 1991 zwei der sechs Teilrepubliken Jugoslawiens für unabhängig erklärten, wich das sorgsam austarierte Gleichgewicht im Vielvölkerstaat einer erdrückenden serbischen Übermacht – ein starkes Motiv für Bosniaken und Kroaten in Bosnien, sich ebenfalls aus der Föderation davonzumachen – und ein nachvollziehbares.Gleich nach der Unabhängigkeitserklärung begann im benachbarten Kroatien der Krieg. Dabei ging es – für jeden sichtbar und (außer manchen westlichen Diplomaten) jedem klar – nicht um den Erhalt Jugoslawiens, sondern um das Territorium, sprich: den Anteil der künftigen Nationalstaaten an dessen Konkursmasse. Die jugoslawische Volksarmee versuchte gar nicht erst, die „Separatisten“ in Zagreb zu besiegen. Sie trennte vielmehr die serbisch besiedelten Gebiete des nunmehr souveränen Kroatien ab. Das völkerrechtliche Überleben Jugoslawiens war nur noch ein Pfand in den Händen der Belgrader Führung. Kein Kriegsziel.Auch in Bosnien roch es längst nach Krieg. „Alle Staaten wurden mit dem Schwert gegründet, nicht am Verhandlungstisch“, sagte an jenem 9. Januar die zu Pathos neigende Vizepräsidentin der neuen Serbenrepublik, Biljana Plavšić, in Anlehnung an Bismarcks berühmte Blut-und-Eisen-Rede. Bosnien hatte keine Truppen. Ein Blick nach Kroatien machte klar, dass die hochgerüstete jugoslawische Volksarmee auf der serbischen Seite stand. Und er zeigte, worum es ihr gehen würde: um Territorium.Als der Krieg begann, definierte sich die in Bosnien stationierte Volksarmee flugs um zur „Armee der Serbischen Republik Bosnien-Herzegowina“. In internationalen Verhandlungen wies Belgrad fortan jede Verantwortung für deren Handeln ab. Es klingt paradox: Ausgerechnet Serbiens Präsident Slobodan Milošević, der doch angeblich Jugoslawien erhalten wollte, hob die Eigenständigkeit aller außerhalb Serbiens handelnden Akteure hervor. Es waren seine Gegner, die darauf beharrten, dass auf dem Boden des zerfallenden Staates nur ein einziger Krieg geführt wurde.In der Rückschau ist der gesamtjugoslawische Hintergrund für die Bosniaken der einzig maßgebende: Die Abtrennung von Srpska war nach ihrer Deutung nicht der Widerstand gegen die Unabhängigkeit Bosniens, sondern umgekehrt: Die Unabhängigkeitserklärung war der Widerstand gegen den Versuch, sich aus dem jugoslawischen Holz ein Großserbien zu schnitzen. So reiht der 9. Januar 1992 sich ein in eine Strategie, die über das Massaker von Srebrenica im Juli 1995 bis zu den heutigen Abtrennungsdrohungen des bosnisch-serbischen Präsidenten Dodik reicht.Welche Sicht die richtige ist, ergibt sich aus der Perspektive. Waren die Unabhängigkeitserklärungen jener Jahre der Tod Jugoslawiens oder die Geburt seiner Nachfolgestaaten? Tatsächlich waren sie beides. Welcher Sicht der Vorzug zu geben ist, wird erst entschieden sein, wenn die Geschichte auch über die Nachfolgestaaten ihr Urteil gesprochen hat. Das wird sie erst nach deren endgültigem Scheitern tun. Je mehr über Gedenktage gestritten wird, desto näher rückt dieser Tag. Womit der Kreis geschlossen wäre.
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